Platz eins, aber noch keine Regierung in Sicht: Mark Rutte.

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Platz zwei, aber keine Partner in Sicht: Geert Wilders.

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Er fürchtete schon, Bono würde ohne ihn singen müssen: Die Karten für das U2-Konzert in Berlin am 12. Juli hatte sich Gert Jan Segers, Fraktionschef der strengcalvinistischen Christen-Unie, rechtzeitig sichern lassen. Schließlich ist U2-Sänger Bono wie so viele irische Rockmusiker ein gläubiger Christ – und Gert Jan Segers ein großer U2-Fan. Wer konnte schon damit rechnen, dass seine Splitterpartei bei der Bildung eines neuen Kabinetts in Den Haag das Zünglein an der Waage spielen würde!

Nach den Wahlen vom 15. März waren alle darauf gefasst, dass es zu einer sogenannten Regenbogenkoalition kommen würde: aus Rechtsliberalen, Christdemokraten, den progressiven D66-Demokraten und den Grünen. Zwei Monate lang hatten diese vier Parteien versucht, ein Regierungsbündnis zu schmieden, waren dann jedoch an der Einwanderungspolitik gescheitert.

Zähe Verhandlungen

Den Grünen, die nach wie vor auf eine liberale Asylgesetzgebung setzen, ging der harte Kurs der anderen zu weit. Und so wurde die zweite Runde eingeläutet: Statt den Grünen holte der amtierende rechtsliberale Ministerpräsident Mark Rutte die Christen-Unie an Bord. Obwohl es diese Vierparteienkoalition nur auf eine hauchdünne Mehrheit von 76 der 150 Mandate bringen würde. Das war im Juni.

Inzwischen ist Christen-Unie-Fraktionschef Segers längst aus Berlin zurück, Bono hat gesungen – aber Den Haag nach wie vor keine Regierung. Denn, so U2-Fan Segers gemäß eines der größten Hits der irischen Band: "We still haven't found what we're looking for!"

Dass die Suche so lange dauert, mag im Ausland Erstaunen hervorrufen – die Niederländer sind es als politisches Vielstromland nicht anders gewohnt. "Koalitionsverhandlungen dauern aufgrund der zersplitterten Parteienlandschaft immer zwischen drei und sieben Monaten", so der Amsterdamer Politologe André Krouwel. Die längsten fanden 1977 statt: Erst nach 208 Tagen bekamen die Niederländer damals eine neue Regierung. "Wir schlagen immer den Königsweg des Gesprächs ein."

209-Tage-Marke

Aber dass dieser Rekord nun nach 40 Jahren gebrochen wird, damit dürften auch hinter den Deichen die wenigsten gerechnet haben. Um dies zu verhindern, müsste Mark Rutte sein drittes Kabinett noch vor dem kommenden Montag, dem 209. Verhandlungstag, auf den Stufen des Palasts Noordeinde in Den Haag präsentieren – und das gilt als ausgeschlossen. Beobachter rechnen damit, dass dies frühestens Ende Oktober der Fall sein wird.

Und mit dem Erstaunen über den neuen Rekord wächst der Unmut, nicht nur bei den Wählern: "Es wird Zeit, die Verhandlungen abzuschließen!", mahnte auch Jeroen Dijsselbloem, Eurogruppenchef und amtierender sozialdemokratischer Finanzminister der Niederlande, die vier potenziellen Koalitionspartner: "Kennt ihr den Ausdruck? Ab-schlie-ßen!"

Einwanderungspolitik als Hürde

Dass auch die zweite Verhandlungsrunde extrem zäh verläuft, liegt an Stolpersteinen wie Klima und Arbeitsmarkt. Auch die Einwanderungspolitik ist erneut eine große Hürde, denn da vertritt die Christen-Unie ähnliche Standpunkte wie die Grünen und mahnt unter der Berufung auf Bibelstellen zu Barmherzigkeit gegenüber Flüchtlingen. "Grün mit Bibel" wird die potenzielle Vierparteienkoalition auch genannt.

Geert Wilders, dessen Partei für die Freiheit am 15. März zwar zweitgrößte Kraft im niederländischen Parlament wurde, mit dem aber niemand zusammenarbeiten will, richtete nach dem Scheitern der ersten Verhandlungsrunde deshalb einen geradezu flehentlichen Appell an Rutte: "Nur mit uns können Sie eine strenge Einwanderungspolitik realisieren!", so Wilders. "Jede andere Variante beschert Ihnen dieselben Probleme wie mit den Grünen!"

Blockade bei medizinisch-ethischen Themen

Eine noch größere Hürde als die Einwanderungspolitik aber bilden medizinisch-ethische Themen: So sperrt sich die Christen-Unie dagegen, dass der Stammzellenforschung mehr Möglichkeiten eingeräumt werden sollen. Auch zwei Vorhaben, die als Kronjuwelen der D66-Demokraten gelten, sind den strenggläubigen Calvinisten ein Dorn im Auge: das geplante neue Organspendegesetz und eine weitere Liberalisierung des Sterbehilfeparagrafen.

Über den Verlauf der Verhandlungen gab sich D66-Fraktionschef Alexander Pechtold entsprechend skeptisch: "Bisher haben wir nur Zentimeter zurückgelegt, keine Meter."

"Grausame Schönheit"

Glaubt man Pressemeldungen, soll er bereit sein, eine Liberalisierung des Sterbehilfeparagrafen vorerst auf Eis zu legen. Als Gegenleistung sperren sich die Calvinisten nicht länger gegen eine Erweiterung des Embryonenschutzgesetzes. Offiziell bestätigt wurde bisher zwar nichts.

Aber gut möglich, dass die D66-Demokraten ihre Kronjuwelen verkaufen, um mitregieren zu können. Nicht umsonst ist hinter den Deichen von der "grausamen Schönheit des Kompromisses" die Rede. (Kerstin Schweighöfer aus Den Haag, 6.10.2017)