Mit parteiinternen Streitigkeiten habe sein Abgang nach 16 Jahren nichts zu tun, betonte der grüne Bezirksvorsteher Thomas Blimlinger (links) am Mittwoch beim Pressetermin mit Nachfolger Markus Reiter (rechts).

APA/KAROLIN PERNEGGER

STANDARD: Am 30. November übernehmen Sie von Thomas Blimlinger die Bezirksvorstehung von Wien-Neubau. Wieso wurde der Wechsel noch vor der Nationalratswahl verkündet?

Markus Reiter: Das war nicht der Plan. Wie Thomas Blimlinger auch betont hat, handelt es sich um eine rein persönliche und nicht politische Entscheidung. Am besten wäre es gewesen, das aus dem Wahlkampfgetöse rauszuhalten. Aber die Gerüchte haben sich zuletzt zu sehr verdichtet.

STANDARD: Gerade leistbares Wohnen ist für Sie als Neunerhaus-Geschäftsführer relevant. In Neubau wird das immer schwieriger. Wird das ein Thema?

Reiter: Ich werde mich bis 30. November mit Grundsatzaussagen zurückhalten. Aber seit ich 18 Jahre alt bin, setze ich mich bei den Grünen für leistbare Lebenserhaltungskosten ein – und Wohnen gehört dazu. Ich will dazu ein Bewusstsein schaffen.

STANDARD: Wo wollen Sie als Bezirksvorsteher noch ansetzen?

Reiter: Ich bin Ökonom. Mir ist auch der Wirtschaftsstandort wichtig. Aber Hauptgründe für meinen Wechsel waren die Demokratiefrage und ein Dagegenhalten gegen den Rechtsruck. Wie Thomas Blimlinger möchte ich durch offene und direkte Kommunikation auch über grüne Grenzen hinweg Kommunalpolitik machen.

STANDARD: Wie wird es in der Geschäftsführung des Neunerhauses weitergehen?

Reiter: Wir werden kommende Woche dazu informieren, die Nachfolge ist bereits geklärt.

STANDARD: Zunächst gibt es noch Neuigkeiten aus dem Neunerhaus. Am Donnerstag werden das neue Gesundheitszentrum und die neue tierärztliche Versorgungsstelle in der Margaretenstraße im fünften Bezirk eröffnet. Was wird sich ändern?

Reiter: Wir haben ab jetzt etwa 800 Quadratmeter zur Verfügung. Das entspricht einer Vervierfachung der Räumlichkeiten.

STANDARD: Wie teuer war der Ausbau, wie wurde er finanziert?

Reiter: Die Gesamtbaukosten betrugen 2,1 Millionen Euro. Der Hauseigentümer, die Puba-Privatstiftung, hat uns diese Kosten vorgestreckt, wir können sie in den kommenden 20 Jahren abstottern. Also verzichtet der Eigentümer de facto auf Miete. Der Fonds Soziales Wien finanziert einen Großteil der Einrichtung. Und wir konnten wieder namhafte Sponsoren gewinnen.

STANDARD: Wie viele Menschen nutzen die niederschwellige Gesundheitsversorgung?

Reiter: Wir haben vergangenes Jahr mehr als 27.000 Behandlungen bei rund 4.000 Patienten durchgeführt. Die Zahlen steigern sich jährlich um 25 Prozent. Wir wussten räumlich nicht mehr weiter. Zudem ist bereits die Hälfte der Patienten nicht versichert.

STANDARD: Ist der Sozialstaat lückenhaft, wenn diese Menschen nicht mehr aufgefangen werden?

Reiter: Unser Sozialstaat ist gut ausgebaut, ich will nichts schlechtreden. Aber es gibt einen Haken: Wir müssen selbst unsere Rechte einfordern. Gerade die Schwächsten sind mit Bürokratie überfordert. Fallen sie aus irgendeinem Grund aus dem System, finden sie oft schwer wieder hinein.

STANDARD: Wie erleben Sie einen Wahlkampf, in dem sozialpolitische Themen auch populistisch genutzt werden?

Reiter: Wenn Sebastian Kurz will, dass EU-Ausländer in den ersten fünf Jahren keine Sozialleistungen bekommen sollen, dann ist das für mich der offenkundige Wille zu einer massiven Verschärfung der Probleme. Es ist eine Sauerei, wenn österreichische Firmen EU-Ausländer beschäftigen und sich niemand um sie kümmert, wenn sie krank werden.

STANDARD: Auch Wohnpolitik ist wieder Wahlkampfthema. Wie beurteilen Sie die Vorstöße?

Reiter: Seit Jahren versuchen wir sichtbar zu machen, dass für jene, die es finanziell am schwersten haben, nichts getan wird. Es ist zwar erfreulich, wenn nun auch Christian Kern vor der Wahl thematisiert, dass wir ein anderes Miet- und Wohnrecht brauchen, allerdings hätte hier schon längst etwas passieren sollen. Es gab 2016 wieder Vorschläge von uns Sozialträgern, es wurden Positionspapiere ausgearbeitet. Es ist nichts passiert. Der Bund muss den Ländern vorschreiben, dass sie die Wohnbauförderung so gestalten, dass alle Zugang zu leistbarem Wohnen haben. Auch SPÖ-Wohnbaustadtrat Michael Ludwig hat zu einer Verschärfung beigetragen. Vor zwei Jahren hat er festgesetzt, dass es nicht mehr zählt, wenn Sozialorganisationen bestätigen, dass sich ein Mensch zwei Jahre durchgängig in Wien aufgehalten hat. Dadurch verfällt der Anspruch auf eine Gemeindewohnung. Es wird das Bild vermittelt, dass es sich manche "gemütlich machen", etwa in der Mindestsicherung. Das ist etwas, das ich nicht erlebt habe. Die Menschen wollen einen Selbstwert haben.

STANDARD: Seit 2012 verfolgt das Neunerhaus den Housing-first-Ansatz. Was ist das Ziel?

Reiter: Wir organisieren bei Immobilienfirmen und Bauträgern Wohnungen. Denn Wohnen heißt: ein eigener Schlüssel, eine Kochmöglichkeit und Privatsphäre. Unsere Aufgabe ist es, bei Krisen zu helfen, nicht, zu kontrollieren oder zu prüfen. Der Effekt war, woran ich immer geglaubt habe: Die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, ist höher. Die Leute merken, dass wir ihnen etwas zutrauen. Nach fünf Jahren bei mehr als 120 Wohnungen mit rund 250 Personen, davon 80 Kinder, haben wir 97 Prozent aufrechte Mietverhältnisse.

STANDARD: Warum gibt es eine tierärztliche Versorgungsstelle im Neunerhaus?

Reiter: Ein Tier ist eine Aufgabe und hilft gegen soziale Vereinsamung. Wir wollen ja von den Menschen, dass sie wieder Verantwortung übernehmen – auch für andere. Die Tiergesundheit ist zudem wichtig für den Halter. Aber die rein monetäre Frage ist nicht der einzige Punkt, denn die Tierärzte sind sozial schon sehr engagiert und machen Spezialpreise. Der Punkt war, dass die Menschen, wie auch bei der Allgemeinmedizin, Barrieren überwinden müssen. Zudem kommen wird über das Tier an den Menschen heran. (Julia Schilly, 28.9.2017)