Wer wie wählte: Wählerwanderungen.

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AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel durfte am Sonntag jubeln. Warum, das versuchen Meinungsforscher nun zu ergründen.

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Unter den etwa 150 Journalisten, die zu der traditionellen Montagsanalyse der deutschen Meinungsforscher gekommen sind, gab es an diesem Vormittag nach der Bundestagswahl nur ein Thema. Wenig überraschend: die Alternative für Deutschland (AfD). Dass die Rechtspopulisten nämlich weit stärker, die beiden Unionsparteien hingegen schwächer als von den anwesenden Auguren vorhergesehen abgeschnitten haben, überraschte nicht nur deutsche Leitartikler, sondern auch die Berlin-Korrespondenten von Japan bis Südafrika.

Wer, fragen sie, sind die sechs Millionen Deutschen, die am Sonntag für Alice Weidel und Alexander Gauland gestimmt haben?

Großparteien abgestraft

Woher sie kommen, darauf gibt die Wählerstromanalyse eine Antwort. 980.000 ehemalige Wähler von CDU und der ebenso abgestraften CSU kreuzten am Sonntag AfD an, 470.000 waren es bei der SPD. Auch von der Linken wechselten 400.000 Wähler zu den Rechten. Warum diese Menschen so gewählt haben, wie sie gewählt haben, versucht ein Quartett führender Meinungsforscher der anwesenden Presse zu erklären.

Angela Merkels CDU habe beim Thema innere Sicherheit, historisch ein Leib- und Magenthema der Konservativen, seit der Flüchtlingskrise 2015 Glaubwürdigkeit eingebüßt. Monatelang habe die Flüchtlingspolitik im Wahlkampf lediglich eine Nebenrolle gespielt. Dass es der AfD durch "gezielte Provokationen" und geschickte Medienarbeit in den letzten vier Wochen vor der Wahl gelungen ist, das Thema wieder aufs Tapet zu bringen, habe den Populisten den entscheidenden Schwung verliehen, sagte Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach.

Die Nazikeule hilft der AfD

Man dürfe nun aber nicht den Fehler machen, die Partei und ihre Wähler pauschal als "rechtsextrem" oder "Nazis" zu bezeichnen. Damit werde man den Motiven ihrer sechs Millionen Unterstützer nicht gerecht, die in den Augen der Meinungsforscher erstmals in der Geschichte bei einer Bundestagswahl einen "Denkzettel" ausgestellt haben.

Schließlich, so Peter Matuschek vom Institut Forsa, verdanke die AfD ihre anfangs 94 Mandate im neuen Bundestag zu einem großen Teil ehemaligen Nichtwählern. 1,4 Millionen Menschen, die 2013 nicht zur Wahl gingen, gaben ihr diesmal die Stimme. "Diese Menschen sind traditionell ehemalige Wähler der beiden Großparteien, nicht Anhänger von radikalen Parteien", sagt Matuschek.

Dass die Union an die wiedererstarkte FDP noch mehr Wähler verlor als an die AfD, nämlich 1,36 Millionen, erklärt Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen mit mangelhafter Mobilisierungskraft, die sich zu lange auf dem Amtsbonus ihrer nach wie vor populären Kanzlerin verlassen habe. Viele bürgerliche Wähler seien davon ausgegangen, dass Merkel ohnehin Regierungschefin bleibt – und wollten mit der Stimme für die Liberalen sanft protestieren.

Ausnahmewahl 2013

Die Wahlergebnisse von 2013, als die Union noch 41,7 Prozent erreichte, seien jedenfalls nicht mit jenen von heute vergleichbar, damals habe es sich um ein "außergewöhnlich hohes Ergebnis" gehandelt, ist man sich am Podium einig. Verglichen mit 2009, als CDU und CSU zusammen auf 33,8 Prozent kamen, konnte sich die Union auf einem stabilen Niveau einpendeln. Während das Lager rechts der Mitte im Wesentlichen seit 1998 gleich groß geblieben ist, mache sich auf der linken Seite Erosion bemerkbar.

Merkels umstrittene Flüchtlingspolitik habe die Verwundbarkeit der Union von rechts offengelegt, sagt Nico Siegel, Chef von Infratest Dimap, der nicht von einer "Schockwahl" sprechen will. Schon 2013, also zwei Jahre vor dem großen Flüchtlingsstrom aus Syrien, sei eine breite Mehrheit für eine restriktivere Flüchtlingspolitik gewesen, sagt er. Die Orientierung der CDU/CSU in die Mitte habe das ignoriert. Nun habe sie dafür die Quittung erhalten. (Florian Niederndorfer aus Berlin, 25.9.2017)