Foto: Rockstar Games / GTA Online

Mein Freund B. spielt keine Videospiele mehr. Früher konnte man sich mit ihm wunderbar über viele Neuerscheinungen unterhalten, er leistete sich um sein Erwachsenenbudget so ziemlich alle größeren Must-have-Titel, spielte die meisten davon durch und freute sich oft schon monatelang vorher auf besonders vielversprechende Games. Seit fast drei Jahren ist Schluss damit, denn so lange hat er keine Zeit mehr für andere Spiele als "Destiny".

Es schwingt auch ein wenig Frustration mit, wenn B. auf die in diesen Jahren wiederholte gestellte Frage, was er denn spiele, immer wieder mit "Eh schon wissen …" antwortete. So richtig viel Spaß, meint B., hat ihm der endlose Sci-Fi-Shooter schon länger nicht mehr gemacht, wiederaufflackernde Phasen der Begeisterung, wenn neue Inhalte und neue Raids nachgeliefert wurden, flachten verlässlich ab zum gewohnheitsmäßigen, oft auch lustlosen und hin und wieder auch als zwanghaft empfundenen Grinding.

Für andere Spiele blieb bei aller wachsenden Unzufriedenheit mit dieser Langzeitbeziehung keine Zeit – und auch weniger Budget, denn alles, was es für "Destiny" an Zusatzinhalten zu kaufen gab, hat B. gekauft. Erst im Verlauf des letzten Jahres hat B. hin und wieder, so wie früher, auch wieder einzelne andere Spiele ausprobiert – aber damit ist jetzt Schluss, wo "Destiny 2" da ist.

So spielt sich "Destiny 2".
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Die Erben von "World of Warcraft" & Co

Aus Sicht der Publisher sind Spiele wie "Destiny" der absolut lukrative Idealfall: ein (Über-)Vollpreistitel, der seine Spielerschaft über Monate oder gar Jahre verlässlich am Spielen hält, berechenbare Zusatzeinnahmen durch DLC verspricht und sowohl kontinuierlich weiterentwickelt wird als auch kontinuierlich Geld abwirft. Und: Dank Online-Konzept ist auch das – zumindest am PC jahrelang beklagte – Raubkopieren kein Thema mehr. De facto hat jenes Modell, das mit "Destiny" sein erfolgreichstes Flaggschiff gefunden hat, das Erbe der klassischen MMOs der Marke "World of Warcraft" angetreten – nur dass statt monatlicher Abogebühren regelmäßige Käufe von inhaltlichem und spielerischem Nachschub getreten sind.

Kein Wunder, dass sich immer mehr große Publisher das Modell, das in Ansätzen zuallererst wohl von "Diablo 3" ausprobiert wurde, zu Eigen machen wollen. "Tom Clancy's The Division", der große "Destiny"-Herausforderer letztes Jahr, schaffte es 2016, das bereits angejahrte Sci-Fi-Epos umsatzmäßig zu überrunden und landete auf Platz 4 der lukrativsten Spiele-IPs unter den "Premium-Konsolentiteln", hinter "Call of Duty: Black Ops 3", "FIFA 16" und dem ebenfalls bereits in die Jahre gekommenen "GTA 5" – Letzteres schickt sich dank Multiplayer-Komponente "GTA Online" an, ein ähnliches Konzept zu etablieren. Klar, dass auch Branchenriese EA mit "Anthem" bereits an einem ähnlichen Titel arbeitet – und viele weitere werden wohl folgen, denn die Branche ist begeistert vom Konzept.

"Games as a Service"

Dass große Spiele in vielen Fällen Online-Multiplayer-Aspekte ins Zentrum rücken, ist nichts Neues, mit Spielen wie "Destiny", "The Division" oder "GTA Online", aber auch reinen Multiplayertiteln wie "Overwatch" oder "Rainbow Six: Siege" ist aber eigentlich ein anderer Schritt getan: Weg vom Spiel als fest umrissenes Unterhaltungsprodukt mit zeitlicher und inhaltlicher Begrenzung, hin zum einzelnen Spiel als möglichst allumfassendem "Hobby", neben dem wenig anderes Bestand hat. "‘Destiny 2’ will ein Bestandteil deines Lebens sein" betitelt Kritiker Cameron Kunzelman seinen Artikel zum Spiel und schreibt: "Wie ‘World of Warcraft’ versucht auch ‘Destiny’, sich als Bestandteil deines Alltags zu etablieren. Spiel kein neues, anderes Spiel, mach lieber ein paar Strikes um Rep zu grinden; hol dir nicht den neuen Shooter, sondern hol dir ein paar Freunde, um den nächsten ‘Destiny’-Raid zu spielen ... Eine Funktion von ‘Destiny’ ist jene als Plattform, um mit Freunden Zeit zu verbringen; die zweite ist ein langsamer Grind in Richtung neues Equipment und neuer Content." Dabei hat übrigens auch "WoW" seinen anhaltenden Erfolg genau diesem Rezept zu verdanken: Längst ist das Rollenspiel dazu übergegangen, ein riesiger Gemischtwarenladen an unterschiedlichsten Tätigkeiten für fast jeden Geschmack zu sein.

Das Spiel als Einzelprodukt, das einmal konsumiert wird, etwa in der Form klassischer erzählender Single-Player-Spiele, tritt in den Hintergrund. Spiele wie "Destiny" sind vielmehr "Games as a Service": Plattformen, deren Hauptziel es ist, durch ein möglichst umfassendes Angebot möglichst viel Zeit und Geld der Spielerschaft zu binden. Statt ein Spiel zu entwickeln, es zu veröffentlichen und einmal Geld daran zu verdienen, bieten "Games as a Service" den Publishern die Möglichkeit, die einmal gebundenen und involvierten Spielerinnen und Spieler wiederholt bezahlen zu lassen: durch DLC und Nachschub an Content einerseits, durch IAP und Mikrotransaktionen andererseits.

Daran wäre prinzipiell nichts Verwerfliches. Ein Spiel, das von Millionen Menschen freiwillig gespielt wird, sie lange bindet und durch freiwillige Käufe ohne Pay-to-win-Tricks immer weiterfinanziert wird, ist nichts Ungebührliches – den Millionen Fans von "Destiny" steht es immerhin frei, das Spielen jederzeit sein zu lassen. Oder?

Grinding, Farming, Zeitvernichtung

Der Dreh- und Angelpunkt bei Riesenspielen, die sich per kontinuierlicher Weiterzahlung finanzieren, liegt in ihrer Langlebigkeit – je länger die Spielerschaft spielen will, desto mehr Geld gibt sie aus. Die Implikationen dieses Mechanismus hat eine ganz andere, grotesk lukrative Nische der Branche abseits klassischer AAA-Titel längst erkannt, und von ihr schwappen die "Lehren" dieser Art der Spielerbindung nun auch zurück. Die Rede ist natürlich von den Riesen der Free-to-Play-Branche, in der es auch oberste Prämisse ist, seine Spielerinnen und Spieler möglichst lange und intensiv an sein Spiel zu binden – und sie, möglichst psychologisch geschickt und effizient, doch noch zum Geldausgeben zu bewegen.

Es ist kein Zufall, dass in Spielen wie "Destiny" und "The Division" repetitive Spielaufgaben – Grinding, Farming – so zentral sind und die Motivation, sich diesen Aufgaben wieder und wieder und wieder zu stellen an dem eigentlichen Gameplay "vorgelagerte" Belohnungssysteme wie Level-ups, Erhöhungen von diversen Charakter-Statistiken oder Sammelaufgaben gebunden ist. Die Verknüpfung unterhaltsamer Gameplay-Elemente – und die zentralen Gameplay-Loops sowohl von "Destiny" als auch unzähliger Free-to-Play-Titel sind ebenso unterhaltsam wie simpel – mit übergeordneten (Langzeit-)Zielen wie dem langsamen Ausbau des Charakters oder zum Beispiel einer eigenen Basis, die dafür sorgen, dass einem das stete Wiederholen derselben Tätigkeiten nicht doch langweilig wird.

"Destiny 2" bemüht sich, seinen Spielerinnen und Spielern eine breite Auswahl an Tätigkeiten zu bieten, die sie möglichst lange bei der Stange halten sollen. Das Ziel ist aber dabei, im Unterschied zu "klassischen" Spielen, stets die Maximierung der von Spielerinnen und Spielern mit dem Spiel verbrachten Zeit. Denn je größer diese Bindung und Identifikation der Spielerschaft mit diesem, dem "einen" Spiel ist, desto wahrscheinlicher ist die weitere Investition in das Spiel. Neben vielen anderen psychologischen Tricks ist dieser wohl einer der simpelsten, der Spieltheorie entlehnt: Je größer die bereits investierte Zeit, desto kleiner die Bereitschaft, diese als "verloren" abzuschreiben – und desto dringlicher die Hoffnung, durch weitere Investition (von Zeit und Geld) seine bisherigen Investitionen zu rechtfertigen .

Kein Wunder, dass mein Freund B. trotz seines immer größer werdenden Verdrusses am ewig gleichen Spiel sich nicht dazu durchringen konnte, einen Schlussstrich zu ziehen: Ein befriedigendes "Ende" ist nicht Teil des Spielkonzepts, und das nächste DLC, das nächste Update, das den bislang geleisteten Zeitaufwand rückwirkend rechtfertigen würde, ist immer nur kurz entfernt.

Der Umfang von "Playerunknown's Battlegrounds" ist zwar noch winzig im Vergleich zu den großen Blockbustern, fesselt aber jetzt schon Spieler für hunderte Stunden.
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Wo ist das Problem?

Selber schuld, könnte man sagen, doch die Auswirkungen der erfolgreichen Riesenspiele sind auch für all jene Spielerinnen und Spieler spürbar, die sich ungern einem einzigen, auf möglichst lange Spieldauer ausgelegten Spielzeitmonster samt Multiplayer-Hauptteil widmen wollen. Mit Hochglanz produzierte Riesenspiele laufen in Sachen Budget und auch Erfolg jenen Spielen den Rang ab, die viele andere Spieler eigentlich lieber spielen würden: Einzelspielertitel ganz ohne Zwang, mit Freunden oder Fremden online zu gehen; konzentrierte erzählende Titel, die narrativ mit Anfang, Dramaturgie und Ende ein vergleichsweise kurzes, aber konzentriertes Spielerlebnis bieten; und abwechslungsreiche Originale, die nicht auf Grind und repetitive Spielelemente setzen, weil sie ihre Spielerschaft nicht für Wochen und Monate beschäftigen müssen, sondern "nur" für viele Stunden.

Das Geld, das große Publisher in die Entwicklung der lukrativen Zeitfresser stecken, wird zunehmend nicht mehr in solche altmodischen Titel investiert werden; und das monetäre und zeitliche Budget der Käuferschaft, das diese kürzeren Spiele mit völlig anderer Philosophie einmal gern gespielt hat, ist zunehmend von riesenhaften EInzeltiteln gebunden, neben denen für kaum etwas anderes Platz ist. Klar bleibt das Ausweichen in die kleineren Nischen, wo Indie-Entwickler für andere, längst als weniger lukrativ geltende Genres entwickeln, doch die Vielfalt im ohnedies seit je von Fortsetzungszahlen geprägten großen Business wird dadurch noch kleiner. Schlechte Nachrichten für all jene, die auf hochqualitative Spiele abseits des wohl künftig noch zahllose Millionen bindenden Erfolgsrezepts hoffen.

Der altgediente Branchenanalyst Michael Pachter kommt wenig überraschend zu demselben Schluss: "Die Spieleverkäufe sinken jeden Monat – weil die Kunden weniger Spiele kaufen und diese länger spielen. Zugleich steigen die Umsätze der Publisher von Quartal zu Quartal. Wie das möglich ist? Weil die letzten verbliebenen großen Publisher mit ihren wenigen Spielen mehr verkaufen, inklusive all der kleinen Mikrotransaktionen. Was ist die Konsequenz dieses Modells? Die Konsequenz ist folgende: Kleine Firmen wie Midway, THQ, Acclaim, Atari und viele andere haben aufgehört, zu existieren."

Monokulturen und Nischen

Vermutlich lässt sich dieser Trend nicht umkehren; zu erfolgreich ist das Modell, zu groß der Schwung, zu euphorisch die Spielerschaft, um die unliebsamen Nebeneffekte dieser Entwicklung hin zum Riesenspiel als alle anderen Titel unter sich begrabenden "Hobby" zu verhindern. Und wie im MMO-Bereich, in dem sich der Platzhirsch "World of Warcraft" kraft riesiger Spielerbasis neben unzähligen anderen, meist weitaus erfolgloseren Mitbewerbern jahrelang behaupten konnte, wird auch in dieser neuen Nische früher oder später eine Diversifizierung eintreten, in der das Konzept so lange wiederholt, kopiert und geklont wird, bis das nächste "große Ding" für noch mehr Umsatz sorgt.

Die Zeiten, in denen man sich mit Computerspielfreunden quer über viele Neuerscheinungen hinweg austauschen konnte, gehen vielleicht auch deshalb zu Ende, weil sich viele zunehmend in ihre allumfassenden, riesigen und wenig Zeit für anderes lassenden Monokulturen zurückziehen. Als Freund der Vielfalt bedauere ich persönlich das ein wenig; andererseits: Ein Spiel, das Spaß macht, macht nichts verkehrt.

Wenn sich dieser Spaß allerdings nach langer, langer, ausschließlicher Beschäftigung angesichts von Repetition und ewigem Grinding in Frust verwandeln sollte; wenn die durchschaubaren Mechanismen der immer wieder notwendigen weiteren Investitionen in DLC, Loot-Boxes oder andere Mikrotransaktionen nach dem üppigen Vollpreis einem doch unverschämt vorkommen; oder wenn man sich irgendwann fragt, ob es außerhalb nicht doch etwas anderes geben könnte – dann wartet außerhalb der Riesenspiele immer noch eine ganze Welt anderer Titel, die nicht auf die Philosophie von "Games as a Service" setzen. Hoffentlich. (Rainer Sigl, 24.9.2017)

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