Graz/Wien – Gernot Müller-Putz hat eine Vision: Irgendwann in der Zukunft spazieren wir alle mit einem Kapperl, lässigen Kopfhörern oder einer anderweitig modischen Kopfbedeckung herum, die die elektrischen Signale misst, die unser Gehirn ständig aussendet. "Warum nicht Gehirnsignale für ganz persönliche Zugangscodes verwenden? Wir könnten so Türen öffnen, im Internet einkaufen oder Geld abheben", gibt Müller-Putz Beispiele. "Warum nicht den Gemütszustand, der von den Hirnwellen abgelesen wird, mit einem Foto mit abspeichern? Warum nicht am Kindle mit Gedanken eine Seite umblättern?"

Müller-Putz ist Experte für Brain-Computer-Interfaces, kurz BCIs, am Institut für Neurotechnologie der TU Graz. Noch bis Freitag treffen sich in Graz Expertinnen und Experten aus mehr als 20 Ländern, um sich bei einer der größten wissenschaftlichen BCI-Konferenzen über die Möglichkeiten der Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine auszutauschen. Gerade erst vor kurzem machte das Team um Müller-Putz mit einer Studie Schlagzeilen, in der die Forscher zeigten, dass anhand der Struktur der Gehirnwellen von musikalischen Probanden eine Melodie in ihren Einzelbestandteilen auf ein Notenblatt übertragen werden kann.

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Möge die Macht der Gedanken mit dir sein: Neurowissenschafter arbeiten daran, Gehirnwellen möglichst genau zu dekodieren.
Foto: Picturedesk / Science Photo Library / Alfred Pasieka

Doch solche "Spielereien" sind nur ein Nebenschauplatz auf dem weiten Feld der Forschung zur Kommunikation zwischen Hirn und Computer. Dabei geht es im Wesentlichen darum, dass ein EEG-Gerät die Signale registriert, die von der Aktivität der Nervenzellen ausgehen. Diese wiederum werden verstärkt und von einem Computer analysiert, um damit simple Befehle ausführen zu können, etwa Buchstaben oder andere Zeichen auf einem Bildschirm auszuwählen, einen Lichtschalter oder einen Rollstuhl zu bedienen.

Fernbedienung im Kopf

Die Hauptzielgruppe dieser Schnittstellen ist eine, die kaum eine Lobby hat: Menschen mit starken körperlichen Einschränkungen, mit Querschnittslähmung bis hin zu Locked-in-Patienten, die zu gar keiner Bewegung fähig sind. Eine von ihnen ist Hanneke De Bruijne, die an ALS leidet, einer schweren Erkrankung des motorischen Nervensystems. Mithilfe eines drahtlosen Brain-Computer-Interface, das direkt in ihr Gehirn implantiert wurde, kann die vollständig gelähmte Niederländerin seit einem Jahr wieder kommunizieren.

Wenn De Bruijne sich vorstellt, die Finger ihrer rechten Hand zu bewegen, registrieren Elektroden, die im motorischen Kortex platziert sind, ein spezifisches Signal, mit dem Buchstaben auf einem Display per Gedanken "angeklickt" werden können. "Es ist wie eine Fernbedienung im Kopf", sagt Nick Ramsey, Neurochirurg an der Medizinischen Universität Utrecht. Im Vorjahr stellte er das System im Fachjournal "The New England Journal of Medicine" vor – laut den Forschern das erste, das ein Patient zuhause im Alltag nutzen kann.

Die gelähmte ALS-Patientin Hanneke De Bruijne steuert mit Kraft der Gedanken einen Computer – bisher ist der Hausgebrauch von BCI-Schnittstellen noch ein Unikum.
UMC Utrecht

"Unsere Patientin ist sehr zufrieden damit", sagte Ramsey am Rande der Grazer Konferenz. "Sie hat nun ein Tablet, da sie mit ihrer Familie auf Urlaub nach Südfrankreich fährt." In etwa einem Monat würde die Arbeit mit einer zweiten Testperson beginnen, die einen Gehirnschlag erlitten hat.

Langfristig möchte der Forscher weiter gehen: In dem Projekt iConnect, für das Ramsey einen Advanced Grant des Europäischen Forschungsrates (ERC) in Höhe von 2,5 Millionen Euro erhielt, will er Gedanken direkt in Sprache übersetzen. "Wir wollen Gehirnwellenmuster für jedes einzelne Phonem festlegen, um quasi die innere Stimme zu übersetzen", sagt Ramsey. Alternativ wird versucht, den Probanden eine Art Gebärdensprache beizubringen, bei der gelähmte Personen für jedes Zeichen an eine bestimmte Handbewegung denken. "Dazu müssen 100 Elektroden auf wenigen Zentimetern implantiert werden", sagt der Forscher. "Die nötigen Bauteile dafür müssen allerdings erst entwickelt werden."

Muskeln elektrisch stimulieren

Sind die Nerven in den gelähmten Körperteilen noch intakt, kann auch ein anderer Ansatz verfolgt werden: Nämlich per Gedankensteuerung direkt die Muskeln mit elektrischen Impulsen zu stimulieren. Ein Durchbruch auf diesem Gebiet gelang im Frühjahr dem US-Biomediziner Bolu Ajiboye: Sein nach einem Genickbruch völlig gelähmter Patient Bill Kochevar konnte dank im Gehirn und im Arm implantierter Elektroden eine Tasse Kaffee trinken und Kartoffelpüree essen, wie der Forscher in "The Lancet" berichtete. Noch funktioniert das System äußerst schwerfällig und kann nur unter Laborbedingungen verwendet werden, wie die Forscher einräumen.

Gernot Müller-Putz ist überzeugt, dass ähnliche Ergebnisse ganz ohne Gehirnoperation erzielt werden könnten. In den EU-Projekten More Grasp und Feel your Reach versuchen die Forscher, Finger-, Hand- bzw. Armbewegungen genauer zu imitieren, und zwar anhand von EEG-Signalen, die mit 60 und mehr Elektroden am Kopf aufgenommen und mithilfe von komplexen Algorithmen analysiert werden. "Wir wollen die Grundlagen für die nächste Generation von Neuroprothesen schaffen", sagt Müller-Putz.

Gedankengesteuerte Roboter

Das Team von José del R. Millán an der EPFL Lausanne entwickelt gedankengesteuerte Roboter, die auf Befehl einfache Tätigkeiten für beeinträchtigte Menschen durchführen. Dabei sollen die Gehirnwellen genutzt werden, um durch schnelle Feedbacks die Kommunikation zwischen Roboter und Mensch zu verbessern. "Wir entwickeln diese Systeme komplett auf Augenhöhe mit den Endnutzern, die in sämtliche Entscheidungen eingebunden sind", betont Millán. "So können wir lange Trainingszeiten vermeiden."

Noch ist eine der größten Herausforderungen der BCI-Forschung, dass das menschliche Gehirn sehr individuelle Signale aussendet und ständigen Veränderungen unterliegt. Dementsprechend langwierig ist es, die Hirn-Computer-Schnittstellen zu kalibrieren. Einer der Forscher, die versuchen, mit Methoden des maschinellen Lernens die Systeme anpassbarer zu machen, ist Benjamin Blankertz, Neurotechnologe von der TU Berlin.

In Graz spricht er über die Möglichkeiten, die Forschung auf realistische Settings zu übertragen. "Bei den medizinischen Anwendungen stellen wir fest, dass es ein großer Schritt von den zahlreichen Studien mit gesunden Versuchspersonen zu Patientenanwendungen ist", sagt Blankertz. "Die Entwicklungszeit, die noch nötig ist, sollte für eine breite Diskussion über Ethik und gesellschaftliche Aspekte der Anwendungsperspektiven genutzt werden." Ob BCI-Technologien nun Menschen mit Behinderungen zu einem selbstbestimmteren Leben verhelfen oder EEG-Hauberl in den Alltag einziehen, lässt sich noch nicht absehen – ist aber vorstellbar, zumindest in Gedanken. (Karin Krichmayr, 20.9.2017)