"Belesenheit" als Privileg?

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In dem am 15. September im STANDARD veröffentlichten Vorabdruck aus Konrad Paul Liessmanns neuem Buch findet sich viel Richtiges; seine Wertschätzung der Literatur ist begrüßenswert und wichtig. Aber seine kulturkämpferische Polemik übersieht doch einiges und ist nicht immer sauber argumentiert.

1. Das von Liessmann zitierte Beispiel der 18-jährigen Schülerin, die "keine Ahnung von Steuern, Miete und Versicherungen" hat, aber "'ne Gedichtsanalyse schreiben" kann, und das "in vier Sprachen", wird von ihm genauso falsch interpretiert wie offenbar von der damaligen Bildungsministerin und von den vielen Meinungsmachern, denen er in seinem Text widerspricht. Naina hat nicht das Falsche gelernt, sondern offenbar gar nichts – denn Gedichte interpretieren zu können, in wie vielen Sprachen auch, ist nicht dasselbe wie Belesenheit. Die Gedichtinterpretation ist eine recht formelhafte Textsorte, in der ein Text auf drei oder vier Aspekte hin untersucht wird; wahres "Verständnis" des zu interpretierenden Textes – wie immer man jenen schillernden Begriff definiert – ist dazu nicht unbedingt nötig.

Wissen und Kompetenz

2. Dass Liessmann in seiner Argumentation die literarische Bildung oder "Belesenheit" der Vermittlung dessen, "was man zum Leben so braucht", in einem Entweder-oder gegenüberstellt, zeigt, dass er der Argumentation seiner Gegner – oder Feindbilder – mehr aufgesessen ist, als er selbst wahrhaben will. Aufgabe einer mit öffentlichen Geldern finanzierten Bildung ist es, das eine wie das andere zu vermitteln.

3. Dass der Begriff "Kompetenz" zum verabscheuten Kampfausdruck geworden ist, haben sich seine Propagandisten sicherlich auch selbst zuzuschreiben. Aber gerade ein sprachlich so sensibler Mensch wie Liessmann sollte sich davon nicht verleiten lassen, ihn derart zu verteufeln. Natürlich war es immer die Aufgabe der Schule und der Universität, Schülern und Studenten Kompetenzen zu vermitteln: sprachliche, mathematische, natur- und geisteswissenschaftliche; sowie soziale. Und nur jene Karikaturen von Bildungsexperten, die (nicht nur) Liessmann (nicht nur) hier so gerne entwirft, behaupten, Kompetenzen ohne Wissen seien erstrebenswert oder auch nur möglich. Wenn ich nichts weiß, über das ich sprechen kann, nützt mir meine gesamte sprachliche Kompetenz (in vier, fünf oder sieben Sprachen) nichts.

Privileg "Belesenheit"

4. Hinter dem apokalyptischen Szenario, das Liessmann in dem Text entwirft, geht eine wesentliche, von ihm immerhin angedeutete Erkenntnis beinahe unter: Das – zumindest teilweise – Versagen der Schule bei der Vermittlung von "Belesenheit" liegt auch daran, dass diese nicht abprüfbar und objektiv beurteilbar ist. Das heißt, sie kann nicht als Kriterium bei einer wichtigen sozialen Funktion des Bildungssystems herangezogen werden, nämlich bei der Verteilung von Zugangsrechten zu höherer Bildung und in der Folge zu gut bezahlter und interessanter Arbeit sowie Sozialprestige. Dass Liessmann das erkennt, geht aus Nebensätzen hervor, die an weit voneinander entfernten Stellen seines Textes stehen: "[Belesenheit] verweist auf ein Privileg: dass es Menschen gibt, die die Zeit haben, sich intensiv mit literarischen Texten zu beschäftigen, ohne dass sie dadurch im Alltag oder in ihrem beruflichen Umfeld wesentlich gewönnen." Und: "Dieser Unterricht kann letztlich nur für Einzelne stattfinden." Das heißt, eine Schule, die Liessmanns Ideal entspräche, müsste also ganz anders konstituiert sein und von der Aufgabe des Vorsortierens von Menschenmaterial explizit befreit werden.

Die Macht der Lehrenden

5. Eine weitere in diesem Zusammenhang relevante Frage stellt Liessmann nicht einmal: Die der Macht, die Lehrende in unserem Bildungssystem notwendigerweise ausüben. Die meist jungen Menschen, denen Bildung oder Ausbildung, Kompetenzen oder Wissen vermittelt werden sollen, werden im Laufe dieses Vermittlungsprozesses regelmäßig zu etwas gezwungen und anschließend danach beurteilt, wie sie diesem Zwang entsprochen haben. (Die Tatsache, dass Schule und Universität den Lernenden sehr oft Vergnügen und Freude bereiten, widerlegt diese Darstellung nicht.) Das heißt, Lehrende haben Macht über die Lernenden: Selbst wenn, wie im letzten Absatz angedeutet, die Relevanz der Schulnoten für die Bildungs- und Berufslaufbahn aufgehoben würde, so hätten die Lehrer immer noch zumindest die Lizenz zum Langweilen. Das heißt, Nainas Kritik ist zumindest insofern berechtigt, als sie für die Zeit und Energie, die sie in die Schule investiert hat, nichts von dem bekommen hat, das sie sich erwartete.

Das Machtproblem in der Schule ist ein diffiziles, und es ist sicherlich keine Lösung, die Schüler und Studenten den Lehrplan bestimmen zu lassen; aber die Lehrenden sollten sich zumindest regelmäßig die Frage stellen, ob sie das, was sie vortragen, auch vor sich und anderen rechtfertigen können und ob sie mit gutem Gewissen den Vorwurf der bloßen Selbstdarstellung zurückweisen können.

Was ist "unverzichtbar"?

6. Als letzten Punkt möchte ich noch die Kanonproblematik ansprechen, über die Liessmann auf verräterische Weise hinweggleitet: Er stellt den "Umgang mit mehr oder minder beliebigen Texten" der Unterweisung im Verständnis jener Texte gegenüber, "die wir für unverzichtbar halten". Und wer bitte sind "wir"? Einen Plural Majestatis unterstelle ich Liessmann nicht, dabei wäre das nicht die problematischste Deutung. Ich selbst könnte mich aufgrund meines Alters und meiner (Aus-)Bildung durchaus mitangesprochen fühlen (in beidem erreiche ich Liessmann nicht), aber die Entscheidungsgewalt über das, was "unverzichtbar" ist, möchte ich mir nicht anmaßen. Auch "kanonische" Texte unterliegen einer Legitimationspflicht; das ist heute besonders deutlich und wird auch auf einer kulturpolitischen Ebene immer wieder angesprochen, aber es war natürlich immer so; sonst hätte man das Nibelungenlied nicht im 18. Jahrhundert wiederentdecken müssen.

Vieles von dem, was Liessmann schreibt, ist durchaus richtig. Ja, wir brauchen Literaturunterricht; ja, eine Zivilisation ohne schöne Literatur wäre armselig; ja, die Argumentation mit der "Nutzlosigkeit" des Literaturunterrichts ist kurzsichtig. Aber daraus einen Kulturkampf zu machen und alles, was nicht Literatur oder Hochkultur oder humanistische Bildung ist, für minderwertig zu erklären, verfehlt das angestrebte Diskussionsniveau ebenfalls. (Thomas Skrivanek, 19.9.2017)