Auf den saftigen Leiten der nordöstlichen Steiermark forscht das Nature Theater of Oklahoma exakt einen Monat lang nach Elfriede Jelineks Toten, die keine Ruhe finden können.



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Elfriede Jelinek, Autorin von "Die Kinder der Toten".


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Graz – Als Elfriede Jelinek mit dem Zombieroman Die Kinder der Toten ihr Opus magnum veröffentlichte, lagen noch neun Jahre ohne Literaturnobelpreis (2004) vor ihr. Im großkoalitionären Österreich dominierten Gereiztheiten die politische Öffentlichkeit. Der rechte Populismus Jörg Haiders hielt die Republik verlässlich in Atem. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges war ein halbes Jahrhundert vergangen. Das öffentliche Österreich bekannte sich – nach den Umwegen der Waldheim-Jahre – zur Mitverantwortung am millionenfachen Mord an den europäischen Juden.

Jelineks "Heimatroman" stimmte nicht nur die deutschsprachige Kritik fassungslos. Entlang der Topografie der nordöstlichen Steiermark entwickelte die Autorin ein schauerliches Projekt der Wiedergutmachung. Nicht nur die Toten wurden in und von ihrer furiosen Prosa auferweckt. Die Lebenden selbst schienen vom Bazillus der Vergänglichkeit angekränkelt.

Eine katastrophale Buskarambolage (Prolog) bildet den Ausgangspunkt der Bestandsaufnahme. Inmitten der allgemeinen Verheerung werden die Rede- und Sprechweisen eines tödlichen Sprachregimes in ihre ideologischen Einzelteile zerlegt. Verballhornte Skifahrer tauchen neben verwesenden Studentinnen auf. Vor allem aber wird eine idyllische Pension namens "Alpenrose" zum Transitort der nicht zur Ruhe gekommenen Toten, zum Durchhaus der NS-Opfer, die sich das Mobiliar buchstäblich mit Haut und Haaren unter den Nagel reißen – und doch keinen dauerhaften Platz finden in den Archiven der Verschwiegenheit und des Verschwiegenwerdens.

Heute scheint dieses Grundbuch der Zweiten Republik tatsächlich seiner Wiedererweckung zu harren. Jelineks Manier beruht auf dem Wörtlichnehmen von Tathergängen, die bereits in der Sprache selbst angelegt erscheinen: "Das Blut quietscht in den Schuhen wie ein Wurf junger Mäuse."

Tatsächlich konditionieren solche Aussagen ein Bewusstsein, das noch im Anbringen der abwegigsten Vergleiche die immer gleiche latente Gewaltbereitschaft (der Täter einst und jetzt) signalisiert. Man erinnere sich an Jelineks Versuch fünf Jahre früher, mit Lust die Mechanik der Pornografie zu entblößen und ihre Entfremdungspotenziale noch einmal zu übertreffen: "Und er fuhr seinen Karren in ihren Dreck ..."

Der Steirische Herbst geht dem Wesen dieses exemplarischen Horrorromans auf den Grund. Der Teufel steckt, wie oft, auch hier im Detail. 666 Seiten zählt das Buch. Das Nature Theater of Oklahoma lädt zu den Originalschauplätzen.

Einen Monat lang, von 15. September bis 15. Oktober, kann man nicht nur das Mürzer Oberland begehen. Kelly Copper und Pavel Liska operieren an der heiklen Schnittstelle von Liveperformance und Filmdreh. Harmlose Ausflügler werden auf ständig wechselnde Sets gelotst und auf Zelluloid gebannt. Besondere Glückspilze dürfen sich in eine der zahllosen Untotenparaden einreihen, die insbesondere jeden Samstag stattfinden.

Vielstimmig und garantiert multimedial beackert ein Team rund um Copper, Liska und Dramaturg Claus Philipp den Jelinek'schen Nährboden. Die Obersteiermark zwischen Mürzzuschlag und Mariazell wird zur Gegend voller Wiedergänger. Im "Veranstaltungszentrum Mürzer Oberland" entsteht ein Basislager, von dem aus "innere Seilschaften" Elfriede Jelineks komplexe Topografie in Angriff nehmen und für sich bewältigen können.

An drei Wochenenden lädt der Steirische Herbst sein Publikum dazu ein, den Gesamttext von Die Kinder der Toten ohne Unterbrechung vorzulesen. Die deklamierenden Laien wechseln einander alle 15 Minuten ab. Komponist Wolfgang Mitterer wird Herk Harveys Untotenfilmklassiker Carnival of Souls (1962) musikalisch illustrieren. Wanderungen und Führungen erhellen Jelineks Herkunftslandschaft. Im Oktober mengt sich dann das Literaturhaus Graz symposial in den Reigen der Totenerwecker ein. (Ronald Pohl, Spezial, 15.9.2017)