Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Condé Nast; Robert W. Klein / AP1967; AP; 1967 AP / AP / picturedesk.com; Pop / TopFoto / picturedesk.com; Henschel / akg-images / picturedesk.com; Fotocollage: Claudia Machado

14. Jänner 1967

Es sind so viele Menschen im Golden Gate Park, ganz San Francisco ist da, ganz Kalifornien, "gathering of the tribes" haben sie es genannt in den Underground-Zeitungen, die in Haight Ashbury kursieren. Neben mir sitzen Leute aus einer Kommune, die aussehen, als wären sie direkt aus dem alten Westen in die Stadt gekommen, überall riecht es nach Gras und Räucherstäbchen. Schaue ich hinüber zur Bühne, sehe ich Jerry Garcia und Grateful Dead, die ihre Instrumente stimmen. Dort steht auch Owsley Stanley, verteilt White Lightning, LSD, das er speziell für den heutigen Tag produziert hat. Auch mir hat er eine der Tabletten in die Hand gedrückt, aber ich scheue mich, den Trip einzuwerfen. Zu nahe ist noch die Erinnerung an die Mandeloperation im Landeskrankenhaus in Graz, während der ich aus der Narkose erwacht bin und angeblich geschrien habe wie am Spieß, wie der Arzt meinen Eltern erzählt hat; ihr Sohn neige zur Schizophrenie, hat er ihnen daraufhin in einem so unangenehmen Tonfall erläutert, dass sie zu Tode erschrocken sind. Schaue ich jetzt aus dem Fenster meines Internatszimmers, beruhigt mich die weiße Landschaft draußen ein wenig, es schneit zum ersten Mal in diesem Winter, und die Bäume im Park sind von einer dicken Schneeschicht bedeckt, Äste knacken, irgendwo hört man ein Auto, das sich durch den Schnee kämpft, aber die Töne sind wie gedämpft, es liegt eine Watteschicht über allem, über dem Land und den Menschen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Sängerin Marianne Faithfull und Mick Jagger, ...
Foto: 1967 AP / AP / picturedesk.com

4. Februar 1967

Seit Keith Richards im Anwesen neben unserem Internat lebt, ist dort immer etwas los. Es heißt, dass dort Haschisch geraucht wird und die Musiker Orgien feiern. So richtig kann ich mir das nicht vorstellen, aber es regt doch ein wenig meine Fantasie an. Ich habe auch schon im Bravo darüber gelesen, und wenn die Erzieher es uns erlauben, dürfen wir sogar den Beat-Club im Fernsehen anschauen. Die seien ja alle völlig high, hat einmal einer der Professoren gemeint, die als Aufsicht immer dabei sind, damit wir uns ordentlich benehmen. Heute jedoch wird unser Fernsehabend jäh unterbrochen, Blaulicht ist auf einmal überall zu sehen auf dem Nachbargrundstück, dort finde gerade eine Razzia statt, erklärt uns einer der älteren Schüler, überall sehe man Polizei. Und Marianne Faithfull, die Freundin von Mick Jagger, sei völlig nackt gewesen, als die Beamten in das Haus eindrangen, habe nur einen Bettüberwurf aus Fell getragen. Daran muss ich dann vor dem Einschlafen intensiv denken, während von den anderen im Zimmer nur Schnarchen und von einigen ein leises Stöhnen zu hören ist.

21. März 1967

Ich bin ganz aufgeregt, weil ich auf meinem ersten Flug in die USA neben Twiggy sitzen darf. Ich finde, sie ist gar nicht so dünn, wie alle sagen, schaut auf jeden Fall sehr cool aus. Mich stört aber, dass während des Fluges ziemlich viel geraucht wird. Wahrscheinlich sind auch die anderen Passagiere so nervös wie ich, man fliegt ja nicht alle Tage nach New York. Auf dem Flughafen werden wir umringt von Reportern, die Fotos machen und Twiggy alle möglichen Fragen stellen. Einige sagen, sie sei jetzt berühmter als die Beatles. Einer fragt sie nach ihren Maßen, und da öffnet sie einfach ihren Mantel und zeigt ihre Figur her. Da wird mir klar, dass sie schon ganz anders ausschaut wie die Mädchen aus der Nachbarschule, die manchmal nachmittags in Zweierreihen in Richtung des Hallenbads marschieren, das dann für uns Buben gesperrt ist. Wir winken manchmal von unseren Zimmern aus hinunter zu den Schülerinnen, die aber nie zurückwinken. Letztens hat das allerdings eine der Begleitlehrerinnen gemacht. Sie war jung und sah ein bisschen aus wie die Eva Pflug aus der Serie Raumschiff Orion. Auch dafür müssen wir kämpfen, dass wir die im Fernsehen anschauen dürfen. Wahrscheinlich, weil die Frauen so kurze Röcke tragen.

Bild nicht mehr verfügbar.

... und die Beatles prägten das Jahr 1967, ...
Foto: Pop / TopFoto / picturedesk.com

5. April 1967

In der Wohnung von Uwe Johnson in der Berliner Niedstraße ist es gemütlicher als im Internatszimmer. Wir sitzen in der Küche, und es ist angenehm warm, alle sind aufgekratzt. Dagrun, die Exfrau von Hans Magnus Enzensberger, ist da, auch Fritz Teufel, Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann und ein paar andere, die ich nicht kenne. Uwe Johnson selbst ist in New York. Vor ein paar Tagen haben wir beschlossen, etwas zu unternehmen gegen den Besuch des amerikanischen Vizepräsidenten, es sollen ein paar Rauchbomben gezündet und Hubert Humphrey mit Pudding beworfen werden. Am Nachmittag fahren einige mit der S-Bahn hinaus in den Grunewald, um die Rauchentwicklung und die Puddingbomben zu testen. Wir basteln inzwischen in der Wohnung weiter an unseren Wurfgeschoßen, als es plötzlich laut an der Tür klopft und "Aufmachen! Polizei!" zu hören ist. Ich schrecke auf, und vor mir steht dieser unangenehme Erzieher, der am Tag zuvor ein paar von uns beim Rauchen auf dem Dachboden erwischt hat. Zur Strafe gibt es Ausgangssperre für alle, die Passierscheine, die wir beim Portier vorzeigen müssen, sind eingezogen worden, wir dürfen nicht einmal nach draußen, um uns mit Wurstsemmeln und Gabelbissen einzudecken. Einige klettern über die Mauer, die anderen sitzen im Studiersaal und starren wortlos in ihre Bücher. Am Abend gibt es Pudding, der in picksüßem Himbeersaft schwimmt. Das kann uns allerdings auch nicht versöhnen.

26. Mai 1967

An diesem Wochenende darf ich nach Hause fahren, damit ich mit der Familie meinen 13. Geburtstag feiern kann. Mein Vater ist über sich hinausgewachsen und hat von seiner Dienstreise aus London das neue Album der Beatles, Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, mitgebracht. Es erscheint offiziell zwar erst am 1. Juni, aber in einigen Läden gibt es die Platte schon Tage vorher zu kaufen. Das muss ich meinem alten Herrn hoch anrechnen, dass er extra einen Umweg gemacht hat, um mich mit diesem Geschenk zu überraschen. Er sagt, dass ihm einige der Figuren auf dem Plattencover bekannt vorkämen, aber namentlich kenne er nur Marlene Dietrich, Albert Einstein und Karl Marx. Sofort lege ich die Platte auf den neuen Plattenspieler, den ich letzte Weihnachten bekommen habe, und wir hören sie uns gemeinsam an. Am Sonntagabend, als der Vater mich mit seinem Škoda zurück ins Internat bringt, fahren wir noch beim Haus der Familie Asher in der Wimpole Street vorbei, um Paul persönlich zu dem großartigen neuen Album zu gratulieren. Leider ist er gerade nicht zu Hause, aber wir hinterlassen ihm eine Nachricht.

Bild nicht mehr verfügbar.

... aber auch die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg bei Protesten in Berlin, ...
Foto: Henschel / akg-images / picturedesk.com

2. Juni 1967

Unser Musiklehrer meint, dass wir uns ab und zu eine Oper anhören sollen, während des Unterrichts spielt er Schallplatten mit Werken von Bach und Brahms. Am Ende der Stunde singen wir ein Lied aus dem Steirischen Liederbuch, aber wir sind jetzt im Stimmbruch, und es klingt so falsch, dass der Professor sein Gesicht verzieht. Heute ist aber ein besonderer Abend, wir besuchen eine Vorstellung in der Berliner Oper, bei der auch der Schah von Persien anwesend ist. Keine Ahnung, wie unser Lehrer zu den Karten gekommen ist, wahrscheinlich kennt er jemanden persönlich. Als wir nach der Vorstellung die Oper verlassen, geraten wir in einen Tumult, überall ist Polizei, es wird geprügelt, und Menschen laufen in alle Richtungen. Ich verirre mich in einen Hinterhof, wo Uniformierte auf einen Studenten einschlagen, dann fällt plötzlich ein Schuss, und ich höre jemanden rufen: "Kurras, gleich nach hinten! Schnell weg!" Kurze Zeit später sehe ich eine junge Frau in einem Abendkleid, die sich über den sterbenden Mann beugt. An diesem Abend kann ich in meinem Bett im Internat nur sehr schlecht einschlafen, und ich habe Albträume.

13. Juli 1967

Endlich haben die Ferien begonnen. Es ist heiß, richtiges Badewetter, der Bruder und ich verbringen zwei Wochen bei unseren Cousins, dort gibt es einen Badesee, am Abend schlendern wir durch die Innenstadt von Klagenfurt und essen Eis. Heute haben wir aber den Greyhound-Bus nach Newark genommen, weil wir eine Freundin besuchen und uns die neue Platte von Aretha Franklin anhören wollen. Der Onkel meint, dass wir dort besser nicht hinfahren sollen, aber wir hören nicht auf ihn. Als wir aus dem Bus steigen, erfahren wir, dass in der Nacht ein schwarzer Taxifahrer von weißen Polizisten verprügelt worden ist, es gibt eine friedliche Demonstration. Wir sind Kinder und ein wenig naiv, die Hautfarbe der Menschen kümmert uns nicht. Dann schlägt jemand mit einer Eisenstange das Fenster des Polizeireviers ein, Menschen laufen durch die Straßen, es gibt Plünderungen und Brandstiftungen, und wir schaffen es nur mit Müh und Not nach Hause. Dort bleiben wir für den Rest des Monats. Am 27. Juli hören wir in Zeit im Bild, dass der Aufstand in Newark, Detroit und anderen Städten vorbei sei, es habe viele Tote gegeben. Wir aber liegen am See und lassen uns unsere weiße Haut bräunen.

Bild nicht mehr verfügbar.

... Hippies, ...
Foto: AP

8. August 1967

Ich stehe vor einem Eisladen in Haight Ashbury, das jetzt voll ist von jungen Hippies, die nicht viel älter sind als ich, alles ist überlaufen, schmutzig, es wird gebettelt, und Mädchen prostituieren sich für Drogen, verzweifelte Eltern sind auf der Suche nach ihren Kindern. Soeben ist ein Bus mit der Aufschrift "Hippie-Hop" vorbeigekommen, wir sind die Touristenattraktion dieses Sommers. Einem Mann mit einer Kodak-Filmkamera zeige ich das Peace-Zeichen, auch wenn das alles nur mehr abgeschmackt ist. Dann bestelle ich mir ein Schokoladeeis und gehe wieder hinunter zum Strand, wo meine Eltern unter einem Sonnenschirm in ihren Liegestühlen sitzen und hinaus auf die Adria schauen. Die Mutter fragt, ob ich bei der Hitze nicht meine Wildlederjacke ausziehen und mir meine Haare schneiden lassen möchte, aber ich antworte nichts darauf, suche mir einen Schatten nahe des Strandcafés, wo aus einer Musikbox Rita Pavone zu hören ist.

22. September 1967

Ich bin zu Besuch beim anderen Onkel in Salzburg. Dort kann man deutsches Fernsehen empfangen, in dem heute der Film Herbst der Gammler gezeigt wird. Der Onkel meint, ich solle mir endlich meine Haare schneiden, sonst brauche ich gar nicht mehr auf Besuch kommen. Ich antworte, ich sei eh nur gekommen, damit ich mir diesen Film anschauen kann. Aber Gammler gebe es jetzt auch in Graz, also brauche ich eh nicht mehr kommen. Dort habe ich vor einiger Zeit sogar ein paar echte Hippies mit Blumen im Haar auf dem Jakominiplatz gesehen. Der Onkel meint nur, dass ich ein Träumer sei. Kurz vor der Nachtruhe bin ich wieder zurück im Internat.

... und Protestmärsche für den Frieden.
Foto: Robert W. Klein / AP1967

21. Oktober 1967

Bin wieder in den USA, diesmal in Washington im Potomac Park. Wir protestieren gegen den Vietnamkrieg, Phil Ochs singt, Jerry Rubin hält eine Rede. Danach marschieren wir Richtung Pentagon, neben mir der Schriftsteller Norman Mailer. Einige von uns durchbrechen die Kette der Nationalgarde und haben die Idee, den Soldaten Blumen in ihre Gewehrläufe zu stecken. Oben auf der Brüstung des Eingangs zum Pentagon sitzt ein Fotograf und macht ein Bild davon. Ich bin mir sicher, es wird um die Welt gehen. Das ist Flower-Power, denke ich mir, während ich meinen Seydlitz aufschlage, weil ich noch für Geografie lernen muss. Ich schaue mir im Atlas an, wo genau die amerikanische Hauptstadt liegt. Irgendwann möchte ich einmal dorthin reisen.

9. November 1967

Es ist nebelig und kalt, trotzdem haben wir alle ein Lächeln auf dem Gesicht. Einer der älteren Schüler hat in der Nacht auf das Schulgebäude ganz groß "Freiheit für alle!" geschrieben und dann das alte Eingangstor versperrt und den Schlüssel verschwinden lassen. Wir jüngeren stehen jetzt frierend im Hof und sehen die Lehrer und den Direktor in hellsten Aufruhr versetzt. Natürlich steht wieder ein Ausgangsverbot im Raum. Trotzdem schaffen wir es noch rechtzeitig zur offiziellen Amtseinführung des neuen Rektors der Hamburger Universität, wo wir gemeinsam mit einigen Studenten ein Transparent mit der Aufschrift Unter den Talaren – Muff von tausend Jahren entrollen. Es ist genau das, was wir alle denken. Nach einer Stunde hat der Schulwart das richtige Werkzeug gefunden, um das Tor zu öffnen. Das Transparent lehnen wir in eine Ecke, es wird uns die nächsten Jahre begleiten.

3. Dezember 1967

Ich liege in der Krankenstation. Dort betreut uns die Schwester Annemarie, wir alle verehren sie, weil sie so lieb zu uns ist. Es gibt Mitschüler, die sich manchmal für ein paar Tage krankmelden, nur um dort ihre Ruhe vor den Erziehern zu haben. Irgendwann ist aber das Gerücht aufgekommen, sie habe ein Verhältnis mit einem der Lehrer, der unter uns Schülern besonders verhasst ist. Das irritiert uns ein wenig. Ich habe aber wirklich Fieber und bekomme nur am Rande mit, dass ein paar Zimmer weiter Louis Washkansky liegt, dem von Professor Christiaan Barnard als erstem Menschen ein fremdes Herz verpflanzt wurde. Ständig laufen Fernsehteams über die Gänge, und es gibt Pressekonferenzen. Irgendwer sagt, dass der Patient das nicht lange überleben wird. Gott sei Dank ist bald Weihnachten, da werde ich bestimmt wieder gesund und zu Hause sein. Zu Silvester werde ich dann mit meinen Eltern und meinem Bruder auf das neue Jahr anstoßen. Ich bin mir sicher, 1968 wird ein besonderes werden. (Wolfang Pollanz, 1.9.2017)