Die inhaftierten Kinder auf der Titelseite der jüngsten Ausgabe des türkischen Satireblatts "LeMan": "Auf geht's, die Zeit für den Hofausgang ist abgelaufen ... zurück in die Zellen", sagt der Gefängniswärter.

Foto: LeMan

Ankara/Wien – Auf dem letzten Bild in der Freiheit hält ihr Sohn eine kleine Wiesenblume in der Hand und strahlt. Blumen kann sich der Zweijährige jetzt nur noch in Bilderbüchern anschauen. Seine Mutter ist Mitte August ins große Stadtgefängnis von Diyarbakir gesteckt worden. Der Sohn kam mit in die Zelle.

Das ist längst kein Einzelfall in der Türkei: Bei 668 stand die Zahl in Haft gehaltener Babys und Kinder im Juli nach Angaben des Justizministeriums. Angesichts der täglichen Festnahmen im Land dürfte die Zahl bereits auf die Marke von 700 zugehen.

Durch staatlichen Verwalter ersetzt

Reza Zugurli, die nun mit ihrem Sohn im Typ-E-Gefängnis von Diyarbakir sitzt, war einmal die jüngste Bürgermeisterin der Türkei. Anfang des Jahres ist die 29-Jährige im Rahmen des Ausnahmezustands von ihrem gewählten Amt in der Stadt Lice enthoben und durch einen staatlichen Verwalter ersetzt worden wie dutzende andere Bürgermeister im kurdischen Südosten der Türkei.

Die Justiz wirft der Exbürgermeisterin Unterstützung einer Terrorgruppe vor – der Arbeiterpartei Kurdistans PKK. In Zugurlis Fall soll es in der Vergangenheit bereits eine Verurteilung zu einer mehrjährigen Haftstrafe gegeben haben. Deshalb soll die junge Kurdenpolitikerin gleich in ein Gefängnis überführt worden sein. Mutter und Kind trennt man dabei gewöhnlich nicht. Das türkische Gesetz gibt der Mutter das Recht, ihr Kind bis zum Alter von sechs Jahren mit in die Haft zu nehmen.

20 Prozent mehr

Doch die Massenfestnahmen seit dem vereitelten Putsch und der Verhängung des Ausnahmezustands im Sommer vergangenen Jahres haben einen prekären Zustand auf bereits hohem Niveau noch verschärft: 504 Kinder lebten im Mai 2016 – also vor Beginn der Massenfestnahmen – mit ihren Müttern in Gefängniszellen. Wie viele von ihnen von der Leerung der Gefängnisse für die neuen Häftlinge ab Juli 2016 profitierten, ist nicht klar. Im September 2016 waren aber bereits 528 und im April dieses Jahres 560 Kinder inhaftiert. Innerhalb von drei Monaten stieg die Zahl dann um 20 Prozent auf 668 im Juli – 324 Mädchen und 344 Buben. 149 dieser Kinder waren ein Jahr oder weniger alt.

Die Zahlen gab das türkische Justizministerium auf Anfrage einer Abgeordneten der Oppositionspartei CHP bekannt. Praktisch jeden Tag kam zwischen April und Juli eine Mutter mit Kind ins Gefängnis.

Unicef in der Türkei verweist auf die Kinderrechtskonvention der Uno. Staaten sollen sicherstellen, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, heißt es dort. Allerdings auch, dass ein Kind das Recht auf Bildung, Spiel und Freizeit für seine körperliche, geistige und soziale Entwicklung hat. Eine Inhaftierung sollte deshalb nur das letzte Mittel sein, heißt es.

Angebliche Gülen-Anhängerinnen

In Europa wird die Überstellung von Kindern in geschlossene Haftanstalten deshalb kleingehalten; In Österreich lag sie über die Jahre im Durchschnitt bei unter zehn Fällen. In der Türkei des "Gegenputsches" von Staatschef Tayyip Erdoğan ist die Justiz jedoch nicht zimperlich. Meldungen über Mütter, die gleich nach dem Gebären von wartenden Polizisten als angebliche Gülen-Anhängerinnen in U-Haft gebracht werden, gibt es in diesen Wochen immer wieder.

Nationalistische Kreise verbreiteten bereits das Gerücht, der Prediger Gülen habe befohlen, dass Mitglieder seiner Bewegung schwanger werden sollen. Auch die deutsche Journalistin Meşale Tolu sitzt mit ihrem zweijährigen Sohn in einer Gemeinschaftszelle. (Markus Bernath, 30.8.2017)