Riad/Wien – Die saudi-arabischen Behörden versuchten noch, die Notbremse zu ziehen, und luden eine Gruppe von Journalisten auf eine gut gesicherte Tour durch Awamiya beziehungsweise durch das zerstörte Viertel al-Musawara ein. Es ist dennoch ein PR-Desaster. Es sehe aus wie in einer Kriegszone, berichteten Reporter vergangenen Mittwoch aus der 30.000-Einwohner-Stadt im Verwaltungsbezirk Qatif in der östlichen Provinz Sharqiya.

Die verstörenden Bilder werden von Saudi-freundlichen und Saudi-feindlichen Medien gleichermaßen verbreitet. Bei Letzteren fehlt meist der Hinweis auf Aleppo nicht: Wie in Syrien habe hier ein Regime seine eigene Bevölkerung belagert und angegriffen. Das saudische Narrativ lautet naturgemäß anders: Riad wolle das heruntergekommene Stadtviertel al-Musawara erneuern und entwickeln, eine Gruppe von schiitischen Terroristen habe sich jedoch dort verschanzt und wurde besiegt, nachdem im Juli die Armee eingeschritten war.

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Ein Soldat der saudi-arabischen Spezialkräfte beim Gang durch das zerstörte al-Musawara. "Terroristen" – so die Saudis – leisteten Widerstand gegen ein Stadtentwicklungsprojekt.
Foto: REUTERS/Faisal Al Nasser

Die "Sieger", Soldaten, werden in den sozialen Medien unter anderem gezeigt, wie sie in einer Moschee auf einem Bild des zu Jahresbeginn 2016 in Saudi-Arabien hingerichteten schiitischen Ayatollahs Nimr Baqir al-Nimr herumtrampeln. Dass die Moschee schiitisch ist, liegt in diesem Fall auf der Hand. Zwar sind laut – konservativen – Schätzungen nur wenig mehr als zehn Prozent der saudischen Bevölkerung Schiiten. Aber sie leben konzentriert im ölreichen Osten, in Qatif sind Sunniten eine kleine Minderheit.

Die Stadt Awamiya gilt von jeher als Hochburg einer schiitischen Opposition, die durch den sogenannten Arabischen Frühling 2011 ermutigt wurde, sich gegen Marginalisierung und – von saudischen salafistischen Predigern legitimierte – Diskriminierung zur Wehr zu setzen. Auch Nimr stammte aus Awamiya. Derzeit warten wieder vierzehn Schiiten wegen ihrer Beteiligung an Protesten als Terroristen auf die Hinrichtung.

Das 400 Jahre alte Viertel al-Musawara in Awamiya soll einer Einkaufs- und Bürostadt weichen. Video
Foto: Al Arabiya

Einkaufs- und Bürostadt

Die derzeitige Eskalation begann, als im Frühjahr Pläne der Behörden bekannt wurden, das 400 Jahre alte Viertel al-Musawara in Awamiya zu schleifen und dort eine in der üblichen Ästhetik gehaltene Einkaufs- und Bürostadt zu bauen (siehe Video).

Abgesehen von der Kritik an der Zerstörung kulturellen Erbes wollten Saudi-Arabien-Experten die Stadtentwicklung als Begründung für das Projekt nie so recht glauben. Laut saudischer Regierung sollten zwar nur relativ wenige Familien – 80 von 488 – in al-Musawara ihre Wohnungen verlieren und dafür entschädigt werden. Von der Uno kam jedoch schon im April die Aufforderung, die Zwangsabsiedlungen zu stoppen. Im Mai starteten die Abrissarbeiten, ein harter Kern Militanter verschanzte sich.

Im Juli startete die Offensive gegen 23 "Terroristen", von denen mittlerweile einige aufgegeben haben, andere getötet wurden.

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Journalisten bekamen in al-Musawara geschliffene Gebäude und Zeichen schwerer Kämpfe zu sehen – und durften fotografieren.
Reuters / Faisal al Nasser

Laut Human Rights Watch hat Saudi-Arabien beim Kampf gegen sie weit übers Ziel hinausgeschossen – im Wortsinn, denn auch andere bewohnte Gebiete außerhalb von al-Musawara wurden beschossen und belagert. Der Großteil der Menschen in Awamiya soll geflohen sein.

Sorge in Kanada

Das ist jedoch nicht gesichert, auch nicht die Zahl der Toten: Unabhängige Berichterstattung gibt es nicht. Das saudische Innenministerium sprach laut Reuters von zwölf getöteten Sicherheitskräften – das ist ein Hinweis auf schwere Kämpfe, die von Bildern aus al-Musawara untermauert werden. Aber es sollen auch unbeteiligte Zivilisten umgekommen sein, unter anderem ein Dreijähriger. Da die Armee kanadische Panzerfahrzeuge von Typ Terradyne Gurkha RPV benützt, fordert Ottawa eine Untersuchung.

Die Schiiten in Saudi-Arabien sitzen in der Falle des iranisch-saudischen Hegemoniekampfs in der Region, der schon 1979, nach der Islamischen Revolution im Iran, begann. Damals gab es unter den saudi-arabischen Schiiten sehr wohl Sympathisanten Khomeinis. Aber seitdem haben schiitische Führer in Saudi-Arabien versucht, ihre Opposition und Kritik am saudischen System von Teheran abzukoppeln – das jedoch die Situation der Schiiten im wahhabitischen Königreich erfolgreich instrumentalisiert.

Es geht aber nicht nur einfach um Politik: Trotz gegenteiliger Bemühungen des Königshauses ist der religiöse Hass auf die Schiiten im saudischen Klerus nicht auszurotten. der Antagonismus zur Schia ist für den Wahhabismus identitätsstiftend.

Eine Episode, die zeigt, dass die saudischen Behörden neuerdings tatsächlich auf Hetze gegen Schiiten reagieren, ereignete sich am Wochenende. Am Freitag war der in der gesamten arabischen Welt beliebte kuwaitische Schauspieler Abdulhussein Abdulredha verstorben. Ein radikaler saudi-arabischer Prediger reagierte auf die Trauerbekundungen mit einem Tweet: Es sei nicht erlaubt, für Abbdulredha zu beten, er sei "ein iranischer Schiit, der im Irrglauben gestorben ist. Allah hat es Muslimen verboten, einem Polytheisten Gnade und Erbarmen zu wünschen". Das saudische Kultur- und Informationsministerium zeigte Ali al-Rabieei sofort an, der für seine Hetze gegen Schiiten bekannt ist – und inzwischen von einem "Missverständnis" spricht. (Gudrun Harrer, 14.8.2017)

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Die saudi-arabische Armee sprach im Falle Awamiyas von einer "Sicherheitskampagne" gegen schiitische Kämpfer.
Foto: REUTERS/Faisal Al Nasser