"Die da oben" sind hierzulande meistens Männer, beim Yoga ist Matthias Strolz der Hahn im Korb. Von Marlene Streeruwitz lässt er die Neos auf Demokratie abklopfen.

Foto: andy urban

Schriftstellerin Marlene Streeruwitz: "Sie können nicht Politik machen ohne ein Wissen über die Geschichte Österreichs."

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Neos-Chef Matthias Strolz: "Dass meine Töchter in meinem Alter in einer Demokratie leben werden, halte ich nicht für gesetzt."

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STANDARD: Ich möchte mit etwas beginnen, das Sie gemein haben: Sie arbeiten beide mit Sprache, wenn auch auf unterschiedliche Weise.

Streeruwitz: Stimmt, ganz basal ist es so.

STANDARD: Vor allem die Neos sind bekannt dafür, mit kleinen Slogans wie "Flügel heben" und "enkelfit machen". Wie viel Politik steckt in der Sprache selbst?

Strolz: Viel. Sprache formt Realität. Das ist ja auch der Grund, warum wir zum Beispiel gendern. Ich bekomme wöchentlich mehrere Beschwerden deswegen, sehr verlässlich. Aber ich habe drei Töchter, und ich habe nicht vor, eine Realität zu formen, in der die Frauen nicht vorkommen. Ich habe immer Sprache als mein Werkzeug und Medium betrachtet, habe auch immer gerne geschrieben. Sprache ist das Hauptwerkzeug einer Politikerin, eines Politikers.

Streeruwitz: Ich würde dann fragen, wie die Realität in die Sprache kommt, weil Sie ja unsoziologisch argumentieren. Es gibt keine Gruppen bei Ihnen – die österreichische Politik ist ja seit dem Zweiten Weltkrieg in der Sozialpartnerschaft immer die demokratische Befriedung von Gruppeninteressen. Sie gehen nur mehr auf die Einzelperson, oder?

Strolz: Genau, aber immer in Verbindung von Freiheit und Verantwortung, beide müssen gemeinsam wachsen. Daher verbitten wir uns Klientelpolitik klassischer Art, weil wir glauben, dass die Politik das Gemeinwohl im Auge haben muss. Was das ist, ist je nach ideologischem Hintergrund unterschiedlich. Aber es muss schon immer ein fairer Deal sein für die gesamte Gesellschaft.

Streeruwitz: Fairer Deal für die gesamte Gesellschaft – das gibt es nicht.

Ein User fragt, wo die Neos den Staat weiter aus dem Privatleben zurückdrängen wollen.
DER STANDARD

STANDARD: Warum?

Streeruwitz: Ein Kompromiss muss immer interessenausgleichend sein, sonst wäre es nicht demokratisch. Da muss jede Gruppe auch Nachteile für sich akzeptieren können, die aus dem Blickwinkel der Interessenlage unfair erscheinen. Das Wort Demokratie kommt in Ihrem "Wahlmanifest" einmal vor- sehr nebenbei. Ist Demokratie für Sie so selbstverständlich, dass Sie sie gar nicht erwähnen müssen?

Strolz: Demokratie-Innovation ist gründungsgeschichtlich sogar einer unserer fünf Schwerpunkte neben Bildung, Europa, Wirtschaft und enkelfitten Sozialsystemen. Als Bürgerbewegung ist Demokratie und Mitbestimmung unsere Ur-DNA. Im Rahmen einer Wahlauseinandersetzung müssen wir Kernthemen stärker in die Auslage stellen. Für diesen Wahlkampf haben wir ausgewählt: Bildungswende, Unternehmergeist, Arbeitsplätze, engagiertes Europa und Stopp der Steuergeldverschwendung.

Streeruwitz: Das hat jetzt alles mit der Struktur von Demokratie nichts zu tun. Bildung zum Beispiel: Was ist das Ziel einer Bildung, die nicht demokratiezentriert ist?

Strolz: Die Bildung ist eine ganz wichtige Voraussetzung für gelingende Demokratie. Aber das ist für uns nicht der Endzweck der Bildung, sondern Bildung ist die Selbstermächtigung des Menschen.

Streeruwitz: Zu?

Strolz: Zu einer Mündigkeit, sein Leben eigenverantwortlich und als verantwortungsvolles Mitglied der Gesellschaft wahrzunehmen.

Streeruwitz: Aber welcher Gesellschaft dann? Das hätte man im Austrofaschismus auch so gesehen.

Strolz: Das weiß ich nicht, und jeglichen Vergleich von Neos mit Faschismus verbitte ich mir. Klar ist: Die Demokratie ist ein ganz zentrales Thema für uns. Ich würde aber nicht sagen, dass die einzige Aufgabe Demokratie ist. Wir sind so kühne Demokraten, wie man es nur sein kann. Wir führen wie wenige andere politische Kräfte diese Auseinandersetzung. Wie müssen wir Demokratie erneuern, damit sie auch bestehen kann in dieser Debatte, die kommen wird um die Systemkonkurrenz: Ist die gelenkte Demokratie, oder die autoritäre Postdemokratie den Demokratien klassischen westlichen Zuschnitts heute überlegen? Diese Diskussion wird kommen.

Streeruwitz: Die führen wir schon. Aber das hat jetzt mit Österreich intern noch nicht so viel zu tun.

Strolz: Das hat sehr viel damit zu tun. Denn eine schwarz-blaue Regierung würde sich möglicherweise stark an einem Modell Orbán oder Kaczynski orientieren – und wir sind ein entschlossener Gegner eines autoritären Machtverständnisses dieser Art.

STANDARD: Das beschreiben Sie ja in Ihrem aktuellen Roman "Yseut".

Streeruwitz: Das Europa der Vaterländer hat gesiegt, ja.

STANDARD: Herr Strolz, sehen Sie dieses Szenario auch als Risiko?

Strolz: Natürlich, Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Dass meine Töchter in meinem Alter in einer Demokratie leben werden, halte ich nicht für gesetzt.

Für Streeruwitz und Strolz ist die ÖVP zu männlich. Aber warum attakieren die Neos die ÖVP nicht stärker, will ein User wissen.
DER STANDARD

STANDARD: Frau Streeruwitz, Sie sitzen hier mit einem Mann, der Politik macht, und einem Mann, der über Politik berichtet. Ist die Politik in Österreich männlich?

Streeruwitz: Ja, und zwar auf eine spezifisch österreichische Art. Diese Männerkonstruktion ist ein Spezifikum, und Sebastian Kurz zum Beispiel ist das Ergebnis einer Sozialisierung in der Männerbündnispolitik der ÖVP-Bünde. Da fallen Sie wahrscheinlich raus – oder waren Sie doch irgendwo bei einer dieser Gruppen?

Strolz: Nein. Ich teile den Befund, dass die Politik viel zu männlich ist in Österreich. Auch wir haben mit einer wahnsinnig männlichen Dominanz gestartet. Wir haben hier sehr viel investiert. Wir haben wissenschaftliche Projekte gemacht, internationale Projekte mit anderen Parteien, wir haben ein Promotorinnenprogramm gestartet und wir sind jetzt auf einem sehr guten Weg. Bei den kommenden Nationalratswahlen treten wir jetzt mit einer ausgewogenen Liste an – ohne Quote, ohne Zwang. Als Freunde der Freiheitsliebe werden wir Zwangsmaßnahmen immer erst als zweiten Schritt überlegen. Wir haben hier große Fortschritte gemacht. Aber der Duktus in der Politik ist extrem männlich, die Zeitgestaltung ist extrem männlich, die Sprache ist extrem männlich, die Witze sind supermännlich – je mehr Alkohol, umso männlicher. Ich bin auch sehr männlich, das ist mir auch klar.

Streeruwitz: Es geht nicht einfach um männlich, es geht um abwertend und chauvinistisch. Außerdem ist sowieso alles vorbei, und postgender sind Frauen unter Umständen männlicher, in dem Sinn, wie Sie das meinen.

Strolz: Die sehr maskulin aufgeladene Politiknorm zu verlassen ist natürlich ganz schwierig. Ich kenne da einen Politiker, der hat versucht, ein Gedicht zu schreiben. Das war in einer Art und Weise nicht erlaubt und wurde zur Häme verwendet – das bringt mich immer noch zum Nachdenken. Nicht, weil die Leute mein Kastaniengedicht blöd finden. Aber ich gehe auch zum Yoga und bin da oft der einzige Mann. Das beschäftigt mich sehr, und ich habe da auch keine abschließenden Antworten. Ich sehe nur: Oft sehen Frauen, wenn sie in die Politik kommen, sich gezwungen, zutiefst männliche oder chauvinistische Machtmuster zu übernehmen. Das kann ich dann nur bedingt als Bereicherung erkennen.

Wie wollen die Neos die Verteilungsgerechtigkeit angehen, will ein Usser wissen.
DER STANDARD

STANDARD: Irmgard Griss kandidiert für die Neos an zweiter Stelle der Bundesliste. Sehen Sie das als Bereicherung?

Streeruwitz: Die Frau Griss ... Fanden Sie das ausreichend, die Distanzierung nach ihrer Aussage, der Nationalsozialismus hätte nicht nur ein böses Gesicht gezeigt? Was ist denn dann das Gute an der Nazizeit? Es muss ja dann etwas Gutes geben.

Strolz: Das hat sie so nicht gesagt.

Im STANDARD-Sommergespräch trafen die kritische Autorin und der Neos-Chef aufeinander.
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Streeruwitz: Die Verführung – wir wissen alle aus der Zeitgeschichte, dass das eine Deckargumentation ist. Das geht gar nicht, das geht nicht.

Strolz: Wir haben das – und auch das ist eine Qualität des Mutes und der Offenheit – bei unserer Mitgliederversammlung sehr offen verhandelt, vor laufenden Kameras ...

Streeruwitz: Was sagt die Frau Griss jetzt? Hat sie etwas nachgelernt?

Strolz: Ich weiß nicht, ob sie etwas lernen muss. Sie konnte für mich und unsere Bewegung sehr glaubwürdig darstellen, dass sie auch nicht einen Funken von Sympathie für Nazi-Gedankengut in sich trägt.

Streeruwitz: Darum geht es ja auch gar nicht, das hat, glaube ich, niemand angenommen. Es geht darum, dass es hier Opfer gibt, die auch Nachkommen haben. Da ist die Wahrheit schon wichtig für uns alle, um uns selbst zu vollständigen Menschen entwickeln zu können, die nicht auf Basis einer Lüge arbeiten müssen. Und bei einer ehemaligen Richterin fände ich schon, dass sie sagen muss: Ich muss das nachlernen, ich habe mein Leben lang Recht gesprochen, ohne das Ausmaß wirklich begriffen zu haben. Sie können nicht Politik machen ohne ein Wissen über die Wahrheit der Geschichte Österreichs. Und die lautet nicht: Verführung, Opfer. Sie lautet: Täter, Mittäter.

Strolz: Ich sehe, dass viel zu viele Österreicher Täter waren und viel zu viele Österreicher Opfer des nationalsozialistischen Regimes waren. Ich war heute in der Früh mit einem Neos-Mitglied frühstücken, er hat väterlicherseits jüdische Wurzeln ...

Streeruwitz: Ich habe keine jüdischen Wurzeln und finde trotzdem, dass die Wahrheit die einzige Möglichkeit ist.

Strolz: Klar. Und Wahrheit ist gerade hier komplex. Frau Griss hat versucht, die Komplexität sichtbar zu machen und aufzulösen, das war mein Eindruck – und ihr wurde mit einer Keule begegnet. Das ist meine Interpretation der Diskussion. In der Sache hat sie einen sehr klaren Blick auf die verhängnisvolle Geschichte unseres Landes und ein Maß an intellektueller Redlichkeit, wie man es lange suchen muss in der österreichischen Politik. (Sebastian Fellner, 12.8.2017)