Leistung, Elite und Exzellenz und immer stärkere Konkurrenz zwischen den Bildungseinrichtungen: Auch die Gesamtschule scheint gegen die Ökonomisierung des Schulwesens machtlos.

Foto: Elmar Gubisch

Immer wieder heißt es, in Österreich werde Bildung stärker als in anderen Ländern vererbt. Kinder aus bildungsfernen Schichten hätten nur wenig Chancen, einen höheren Bildungsgrad als ihre Eltern zu erlangen. Das österreichische Schulsystem verlange zu frühe Entscheidungen zwischen der Pflichtschule und einer höheren Schule. Eine gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen müsse deshalb her.

Ich selbst, promovierte Romanistin und Germanistin, komme aus einer Familie, in der vor mir niemand eine höhere Schule besucht hat. Dass ich viele Jahre lang zur Schule gehen und die Universität besuchen durfte, Bildungsabschlüsse bis hin zum Doktorat erwerben konnte, verdanke ich unter anderem dem österreichischen Schulsystem mit seinen Förderungen und seiner Durchlässigkeit. Wie aber ist es möglich, dass mein eigener Weg den aktuellen Studien so deutlich widerspricht?

Vielleicht sollte man weniger das Schulsystem als die gesamtgesellschaftliche Entwicklung der letzten dreißig Jahre betrachten, um Antworten auf diese Frage zu erhalten. Denn dass es ein Schulsystem geben könnte, das tatsächlich allen Kindern die gleiche Chance auf Bildung ermöglicht, ist nichts anderes als ein Mythos. Viel wahrscheinlicher ist, dass auch ein Gesamtschulsystem gesellschaftliche Machtverhältnisse spiegelt und Ungleichheiten reproduziert.

Verschärfung der Situation

Außerdem ist die aktuelle Forderung nach einer Gesamtschule im Kontext des herrschenden Bildungsdiskurses zu betrachten, eines Diskurses, der Bildung auf ihre ökonomische Verwertbarkeit reduziert. Meine These ist, dass es deshalb künftig sogar zu einer Verschärfung der Situation kommen wird, dass Ungleichheiten nicht nur reproduziert, sondern erzeugt und Bildungsbiografien wie die meine noch seltener als früher vorkommen werden. Gesamtschule oder differenziertes Schulwesen hin oder her.

Weder mein Vater noch meine Mutter sind mehr als acht Jahre zur Schule gegangen. Als ich zehn Jahre alt war, besuchte ich wie selbstverständlich die Hauptschule im Ort.

Am Ende der Pflichtschulzeit wäre konsequenterweise eine Lehre für mich angedacht gewesen. Dank der Intervention meiner Lehrerinnen konnten meine Eltern davon überzeugt werden, dass ich doch eine höhere Schule besuchen durfte. So kam ich in die Handelsakademie. Für meine Eltern bot diese Schule genügend konkrete Berufsausbildung, damit ich nach der Matura nicht auch noch studieren müsste. Da weder für den Schulbesuch noch für die Schulbücher Geld zu entrichten war und es die Schulfreifahrt gab, war das Unterfangen auch in wirtschaftlicher Hinsicht möglich.

Nach der Matura war für mich klar, dass ich nun auf die Universität wollte. Studien- und Familienbeihilfe, der freie und kostenlose Hochschulzugang und natürlich auch mein im Laufe der Schulzeit erworbenes Selbstbewusstsein erlaubten es mir, dieses Ansinnen meinen Eltern gegenüber durchzusetzen. Sie hätten sich zweifellos gewünscht, dass ich endlich arbeiten gehen und finanziell unabhängig sein würde, schlussendlich akzeptierten sie aber mein Begehr.

Keine Ausnahme

Heute unterrichte ich an einem Gymnasium und bisweilen auch an der Uni. Meine eigene Bildungsbiografie kann man wohl als geglückt bezeichnen, wenngleich es zweifellos viel zu optimieren gegeben hätte, der erfolgreiche Ausgang nicht vorgezeichnet war und die "Karriere" durchaus bescheiden ausfällt. Aber ich durfte zur Schule gehen, gratis und weit über die Mindeststudienzeit hinaus an einer ganz normalen Universität studieren und hatte nebenbei gesagt nie den Eindruck, mit mangelnder Exzellenz abgespeist zu werden.

Sicherlich gab es mehr Mitstudierende, die einen bildungsbürgerlichen Familienhintergrund aufwiesen. Dennoch – ich war keine Ausnahme. Es gab zahlreiche andere Studenten, die ebenfalls aus kleinen Verhältnissen kamen. Nicht wenige von ihnen hatten die Hauptschule besucht, bevor sie in eine weiterführende Schule gewechselt sind. Das österreichische Schulsystem erlaubte diesen Aufstieg und erlaubt ihn bis heute, vorausgesetzt, man ist bereit, sich auf das Abenteuer Bildung einzulassen.

Was aber hat sich verändert, dass solche Wege dem etablierten Schulsystem nicht mehr zugetraut werden und ihm stattdessen die Schuld an der mangelnden Bildung vieler Kinder aus bildungsfernen Schichten angelastet wird? Meines Erachtens ist es nicht die Schuld des Schulsystems. Vielmehr sind es die zunehmende Ökonomisierung der Bildung und der daraus resultierende Diskurs. Eine gewisse Selbstverantwortung der Menschen wird man indes auch nicht bestreiten wollen.

Zum einen ist dieser Diskurs vom ständigen Gerede um Leistung, Elite und Exzellenz, von der Forderung nach der besten Schule oder Uni, von der immer stärkeren Konkurrenz zwischen den Bildungseinrichtungen gekennzeichnet. Diese Wettbewerbssituation produziert Gewinner – aber natürlich auch Verlierer. Die permanente Betonung der Wichtigkeit von Bildung erzeugt Druck und Angst, und zwar vom Kindergarten an. Es ist ein ständiges Wettrennen um die beste Bildung, das gegenwärtig im Gange ist.

Zum anderen herrscht eine geradezu obsessive Fixierung auf die Zukunft. Die Schule müsse fit für die Zukunft machen, die gymnasiale Oberstufe müsse gezielt auf die Uni vorbereiten, die Uni müsse für "employability" sorgen.

Bildung stellt keinen Wert an sich mehr dar, sondern wird rein funktionalistisch für das spätere Leben betrachtet und verwertet. Nicht dass es das früher nicht auch schon gegeben hätte. Mittlerweile aber erscheint die Funktionalisierung allumfassend und lässt kaum mehr Raum für Zweckfreiheit und das Hier und Jetzt. Die Matura scheint alternativlos zu sein – aber nicht, weil es um die sich anzueignenden Bildungsinhalte ginge, sondern weil sie die Eintrittskarte für die Hochschule darstellt und als politisches Ziel im Hinblick auf den ökonomischen Fortschritt der Gesellschaft definiert wurde.

Mehr als ein Sprungbrett

An allen Fronten wird so getan, als gäbe es kein Entkommen aus dem kollektiven Wettrennen um Bildung. Und vielleicht gibt es das ja tatsächlich nicht. Denn, wie gesagt, es geht nicht um Bildung an sich. Es geht um Leistung, es geht um die Karriere, es geht um die Zukunft. Bildung soll dafür bloß das Sprungbrett darstellen.

Aber auch in einem Gesamtschulsystem wird es gesellschaftliche Schichten geben, die sich in diesem Wettkampf leichter tun, die dieses "Spiel" besser beherrschen als andere. Diese werden die effizienteren Wege einschlagen und die strategisch richtigeren Entscheidungen treffen. Für die Abgehängten aber wird man dann schon ein paar Pseudodiplome erfinden, damit die Statistik trotzdem passt. Denn natürlich muss in einer Wettbewerbsgesellschaft auch ein neues Schulsystem ein Erfolg werden.

Ein wirklich förderliches Bildungssystem müsste Freiräume eröffnen und Fehlentscheidungen zulassen, finanzielle Unterstützungen bereithalten und den jungen Menschen Zeit lassen; ihnen aber auch klarmachen, dass Bildung anstrengend ist, nicht notwendigerweise zu finanziellem Erfolg führen muss und es echte Alternativen zu Schule und Studium gibt. Davon würden Kinder aus bildungsfernen Schichten möglicherweise profitieren. Die gleiche Chance auf Bildung für alle würde es aber natürlich auch nicht bedeuten. (Monika Neuhofer, 11.8.2017)