Es ist schon wieder passiert: Diesmal geht die Türkei auf Konfrontationskurs mit den USA. Hintergrund sind unterschiedliche Haltungen gegenüber der PKK in der nordsyrischen Stadt Idlib. Wenige Tage zuvor eskalierte der Streit mit Deutschland, das die Einhaltung von Menschenrechten in der Türkei einmahnte. Prompt holte die Regierung in Ankara zum Gegenschlag aus und drohte, deutsche Unternehmen des Landes zu verweisen.

In meinem ganzen Leben als politische Beobachterin und Kommentatorin habe ich diese außenpolitischen Entgleisungen noch nicht erlebt. Sie übersteigen sogar das Aggressionslevel der Zypernkrise im Jahr 1974.

Die aggressive Politik gegenüber dem Westen ist Teil einer großen innenpolitischen Agenda der Erdogan-Regierung. Seit dem Militärcoup am 15. Juli 2016 haben der Präsident und seine Unterstützer ein repressives Regime etabliert. Seither erleben wir eine technische Umwandlung des parlamentarischen hin zu einem präsidentiellen System, einen politischen Systemwandel hin zur Ein-Mann-Herrschaft Erdogans.

Dabei geht es auch darum, das kemalistische Verständnis von Politik und Geschichte durch eine nationalistische Ideologie zu ersetzen. Diese Ideologie ist in der Türkei alt und neu zugleich. Sie ist eine Reaktion des rechten Lagers auf die republikanische Revolution im 20. Jahrhundert. Zunächst war das rechte Lager gemäßigt, erst im Laufe der Jahrzehnte wurde der islamische und nationalistische Widerstand gegen den türkischen Republikanismus heftiger – und mündete schließlich in einer kompletten Ablehnung des Säkularismus und des Westens.

Seit dem Militärcoup haben sich antiwestliche Ressentiments weiter verschärft. Zum einen, weil westliche Verbündete den Coup gar nicht oder nur sehr zaghaft verurteilt haben. Zum anderen, weil die Zusammenarbeit des Westens mit der nordkurdischen Regierung, die wiederum das türkische Regime unverblümt kritisiert, als Kampfansage gewertet wird. Das alte Vorurteil, der Westen sei in Wahrheit feindselig gegenüber den Türken und dem Islam, wird also gleich doppelt bestätigt.

Viele Türken sind heute überzeugt, dass hinter der Modernisierung ihres Landes, die mit den letzten osmanischen Herrschern eingeleitet wurde und in der Herrschaft der säkularen, republikanischen Partei ihren Höhepunkt fand, der Westen steckt. Allein Erdogan habe dieser Entwicklung Einhalt geboten. In dieser Logik sind Länder wie die USA oder Deutschland letztlich westliche Kräfte, die Anhänger von Fethullah Gülen und kurdische Terroristen unterstützen.

Erdogan und seine Unterstützer sind zutiefst davon überzeugt, dass Feinde im eigenen Land und im Westen darauf abzielen, ihn zu stürzen. Auf dem Spiel steht daher keineswegs nur ein trivialer politischer Machtkampf, sondern das Überleben einer Nation, das sich als letzte Bastion der islamischen Welt betrachtet. Mit anderen Worten: Wer gegen Erdogan ist, der ist nicht nur gegen die Türkei, sondern gegen die Religion des Islam. Diese Leute sind Kriminelle.

Wenn dermaßen viel auf dem Spiel steht, bleibt keine Zeit für eine faire Behandlung der Opposition im eigenen Land. Und es bleibt keine Zeit für außenpolitisches Fingerspitzengefühl gegenüber dem Westen. Der nächste Streit mit einem westlichen Verbündeten ist also programmiert. (Nuray Mert, 8.8.2017)