Madame Géquil (Isabelle Huppert), eine Techniklehrerin, wird in Serge Bozons Komödie "Madame Hyde" aus der Bahn geworfen und entwickelt pädagogische Fingerfertigkeit.

Foto: Festival Locarno

Locarno wird gerne die kleine Schwester in der A-Liga internationaler Filmfestivals genannt. Eine Rolle, aus der man im Tessin seine Vorteile zu ziehen gelernt hat: Man feiert die 70. Ausgabe, wie schon im Mai Cannes, und verweist auf die vielen Karrieren, die hier ihren Anfang nahmen. Michael Haneke ist einer der Namen darunter. 1989 stellte er in Locarno Der siebente Kontinent vor, im selben Jahr übrigens wie der iranische Meisterregisseur Abbas Kiarostami Wo ist das Haus meines Freundes?.

Dem Ruf, ein Ort für Entdeckungen zu sein, kleineren, kantigeren und weniger starträchtigen Produktionen Raum zu gewähren, wird das Festival unter der Leitung von Carlo Chatrian nach wechselhafter Geschichte seit einigen Jahren wieder gerecht. Zugleich pflegt es seine Liebe zur Filmgeschichte mit sorgfältig kuratierten Retrospektiven. Aus dieser Mischung aus Neuem und Altem bezieht das Festival beträchtlichen Reiz.

Dieses Jahr gilt Jacques Tourneur im neu renovierten Rex, das sich nunmehr GranRex nennen darf, die große Rückschau. Der nach Hollywood emigrierte Franzose blieb vor allem durch seine Horrorfilme aus den 1940er-Jahren in Erinnerung: I Walked with a Zombie oder Cat People schufen Fetischwelten voller unheimlicher Atmosphären. Nun kann man auch an weniger bekannten Filmen wie Easy Living (1949) überprüfen, dass Understatement und Schnelligkeit jung halten. Victor Mature spielt darin einen Footballstar, der mit dem Kopf gegen die Tatsache anläuft, dass keine Karriere ewig währt. Wie Tourneur in einer einzigen Partyszene deutlich zu machen versteht, dass Ideal und Wirklichkeit auseinanderklaffen, ist meisterlich; begleitet von einer herzergreifenden Crooner-Ballade reißt er Räume auf, in denen die Figuren nicht geeint, sondern isoliert, alleingelassen zurückbleiben.

Werwölfe unter Starkstrom

In zwei aktuellen Wettbewerbsfilmen mag man indes ein Echo auf Tourneurs Gestaltwandlerfilme finden: As Boas Maneiras (Good Manners) vom Regieduo Juliana Rojas und Marco Dutra ist eine stimmige Übersetzung des Werwolf-Mythos ins Brasilien der Gegenwart, mit Schwerpunkt auf die weiblichen Mühen, ein Werwolf-Baby auszutragen und großzuziehen. Rojas und Dutra sind gute Schüler Tourneurs im Sinne von Reduktion und Konzentration, setzen sie den ersten, kompakteren Teil des Films doch als Kammerspiel in einem Luxusapartment in São Paolo um. In der Beziehung der Nanny (Isabél Zuaa) zur werdenden Mutter (Marjorie Estiano) wird das wilde haarige Ding im Bauch auch ein Auslöser der sexuellen Anziehung zwischen den Frauen.

New Trailer Buzz

In Madame Hyde vom Franzosen Serge Bozon ist es dann ausgerechnet Isabella Huppert, die durch eine Ladung Starkstrom aus gewohnten Bahnen geworfen wird und, nunmehr elektrisiert, einen Charakterwandel durchlebt. Huppert kann man zunächst in der untypischen Rolle einer Techniklehrerin erleben, der ihre Klasse mit Migrationsanteil schon lange über den Kopf gewachsen ist. Tintenbefleckt und demoralisiert, wie sie ist, sollte man meinen, dass sie sich, plötzlich geladen, rächt. Doch Bozon entscheidet sich in seiner Komödie für eine viel bessere Strategie. Er zeigt, wie die Lehrerin in der Nacht als Lichtwesen alles in Asche verwandelt, was sie berührt. Untertags jedoch vermag sie ihre Blitze zielgerichtet einzusetzen und gewinnt nicht nur ihre Lebenslust zurück, sondern entwickelt auch pädagogische Fingerfertigkeit.

Raum für Sehnsucht

So tolldreist und unvorhersehbar Bozon mit den Gattungen Sozialdrama und Monsterfilm verfährt, so klassisch französisch mutet auf den ersten Blick ein Film wie Milla an. Zwei Siebzehnjährige, die ihre Liebe wie Vagabunden leben, finden sich in einem leerstehenden Haus im Norden Frankreichs: Der zweite Film von Valérie Massadian ist ein schönes Beispiel dafür, wie viel ein veränderter Blick aus oft erzählten Konstellationen herauszuholen vermag.

Statt einer geradlinigen Dramaturgie zu folgen, entwickelt Massadian ihren Film halbdokumentarisch aus Situationen heraus und gibt ihren Figuren die Zeit, sich zu entfalten. Dass Milla schwanger ist, ihr Bauch langsam anwächst, sie sich schließlich alleine als Zimmermädchen in einem Hotel durchschlagen muss, all das übersetzt der Film nahe an der Wirklichkeit. Und lässt trotzdem Raum für Sehnsucht, zum Beispiel wenn ein Punkduo auf einem Flur gegen das Monster verlorener Zärtlichkeit anschreit. (Dominik Kamalzadeh aus Locarno, 6.8.2017)