Jürgen Dollase
Thomas Ruhl
Pur, präzise, sinnlich
Ganzheitlicher Genuss – die Zukunft des Essens. Mit über 50 Rezepten.

AT-Verlag, ISBN/ISSN978-3-03800-932-0

41,10 Euro

Foto: © Thomas Ruhl, AT Verlag / www.at-verlag.ch

Es gibt interessante Bücher, die auf dem Schreibtisch landen, aber zum intensiven Durcharbeiten fehlt dann die Zeit. Diese bot der heurige Sommerurlaub glücklicherweise zuhauf und daher gibt es hier eine Lese-Empfehlung für ein Buch, das bereits im Frühling erschienen ist. Jürgen Dollase, langjähriger Kulinarik-Kritiker der FAZ, macht sich in "Pur, präzise, sinnlich" – dem dritten Band seiner Trilogie nach "Himmel und Erde" und "Kopf und Küche" – ausführlich Gedanken über die Zukunft des Essens.

Es geht hier aber weniger um hippe Trends sondern um Vorschläge, ja sogar sehr massive Forderungen, wie jede und jeder Einzelne sich dem Thema Ernährung annähern sollte und welche Fehlentwicklungen es gab und gibt. Kritisch äußert sich Dollase jedoch nicht nur über die Lebensmittelindustrie samt extrem überwürzter Fertiggerichte wie Packerlsuppe oder Dosenravioli (die er auch für das Buch ausprobiert und beschreibt). Auch die Gastronomie wird – zu Recht – getadelt: sei es für Überwürzung, massiven Einsatz von Butter und Obers oder auch "Gleichmacherei" von Speisen, weil beispielsweise zu viel Fond verwendet wird Oder – gerade in Teilen der Spitzengastronomie – für die ausschließliche Verwendung von "Luxusstücken" und einer Verachtung von minderen Fleisch- oder auch Gemüseteilen. Hier hätte aber glückerlicherweise bei vielen jungen, kreativen Köchen ein Gegentrend eingesetzt, die weg von der klassischen, französisch dominierten Küche eine neue Art des Kochens forcieren.

Sich weiterentwickeln

Wichtig für die persönliche Entwicklung sei es, wegzukommen, vom "Komaesser" wie er es nennt, zum "sinnlichen Genießer". Dabei müssen selbstverständlich eigene Geschmacksgrenzen überschritten werden und Dollase spricht hier aus eigener Erfahrung. War er früher doch selbst Fast-Food-Esser, der sich im Laufe seiner eigenen Entwicklung durchaus selbst überwinden musste, manche Dinge zu kosten, sei es etwas Rohes und Schwabbeliges wie eine Auster oder einfach nur pures Fett oder auch eine Taube.

Doch nur durchs regelmäßige Probieren lassen sich Unterschiede in Qualitäten erschmecken und es tun sich neue Geschmackshorizonte auf. Experimentieren sollte man schließlich auch in der eigenen Küche, so Dollase. Klingt banal, ist aber sicher nicht selbstverständlich für Menschen, die ausschließlich nach Rezept kochen.

Forderungen

Für die Gastronomie fordert er kleinere Portionsgrößen, weniger "Grüße aus der Küche", bzw. andere Menüabfolgen. Der Handel sollte das Warenangebot regionaler ausrichten und nicht klassische Gourmetprodukte in schlechter Qualität zu Diskontpreisen anbieten, was die Grundqualität der Nahrung eben nicht verbessere.

Das Ganze genießen

Passend zu den jeweiligen Thesen und Forderungen gibt es Rezepte (großartig fotografiert von Thomas Ruhl). Beispielsweise beim Kapitel "Gemüse" eine Karottenvariation, die zur Sensibilisierung für das Produkt Karotte als tragenden Bestandteil eines Gerichtes führen soll. Die Karotte landet in sieben Zubereitungsarten auf dem Teller: konfiert, in Scheiben gegart, als Püree, roh als Saft, reduzierter Saft, getrocknete Schalen und schließlich mit Pesto vom Karottengrün. Oder eben Tomatensuppe "ohne Zutaten" (Rezept s.u.). Dazu kommen Kapitel wie "Milch, Butter, Käse", "Brot", "Fisch", "Fleisch" und "Desserts", wo sich spannende Küchentechniken und -tricks finden, die in durchschnittlichen Kochbüchern sicher nicht zu finden sind.

Sein Wahrheitsanspruch und seine Wahrnehmungen, die manchmal vielleicht zu wenig über den eigenen Tellerrand hinausschauen, mögen manchmal anstrengend sein. Trotzdem ein wichtiges Werk, das interessante Einsichten näher bringt und zum Nachdenken anregt. Falls noch Platz im Koffer: Unbedingt einpacken. (Petra Eder, 5.8.2017)

Nachfolgend ein Gericht aus dem Buch, Tomatensuppe "ohne Zutaten". Für Dollase "ein radikales Rezept, das ein besonders klares Beispiel für das ist, worum es hier geht: Purismus, Präzision in der Behandlung der Produkte und eine neue Sinnlichkeit, die unserer Wahrnehmung keine Zügel anlegt, sondern sie öffnet."

Tomatensuppe "ohne Zutaten"

Tomatensuppe "ohne Zutaten" ...
Foto: © Thomas Ruhl, AT Verlag / www.at-verlag.ch

Für 2 große oder 4 kleine Portionen
Zutaten und Zubereitung: 8 mittlere Tomaten

Die Tomaten halbieren und den Stielansatz entfernen, dann die Tomaten in grobe Stücke schneiden. In einem Rührbecher portionsweise sorgfältig pürieren. In einen mittelgroßen Topf geben und kurz aufkochen. Falls die Masse nicht flüssig genug ist, etwas Wasser dazugeben. Etwa 30 Minuten ganz leicht köchelnd ziehen/reduzieren lassen. Durch ein feines Sieb in einen zweiten Topf passieren, dabei so gut wie möglich ausdrücken.
Abermals kurz aufkochen und 30 Minuten ganz leicht köchelnd ziehen/reduzieren lassen.
Das ist alles. Sie können die Suppe in dieser Form servieren und essen. Falls Sie eine Anreicherung wünschen, empfehle ich folgende Zutaten:
Optionale Zugaben: Kalte Kerngehäuse, Faden Olivenöl, mediterrane Kräuter, Tupfer von kaltem Sauerrahm.

... hier mit einigen möglichen Ergänzungen: Kerngehäuse, kalter Sauerrahm, Kräuter.
Foto:© Thomas Ruhl, AT Verlag / www.at-verlag.ch

Anmerkungen

Die Zugabe von Wasser ergibt keine Veränderung, es verschwindet bei der weiteren Reduktion wieder. Unter »leichtem Köcheln« versteht man eine minimale Bewegung an der Oberfläche der Flüssigkeit, die üblicherweise auch leicht dampft. Man kann die Temperatur auch so einstellen, dass so gut wie keinerlei Bewegung sichtbar wird. Im Grunde geht es nur darum, eine Temperatur zu haben, bei der die Flüssigkeit durch ein dezentes Verdampfen reduziert und damit aromatisch intensiviert wird.

Die Zeit von 30 Minuten kann durchaus überschritten werden. In vielen guten Restaurants mit eher klassischer Küche lässt man Saucen oft stundenlang ganz langsam reduzieren. Das Passieren dient dazu, die verbleibenden festeren Bestandteile auszudrücken, um noch mehr konzentriertes Aroma zu erzielen.
Die Anreicherung der Suppe ist nicht wirklich nötig, schmeckt aber sehr gut. Die Zugaben kann man in kleinen Schüsselchen zur Selbstbedienung servieren. Die Temperaturregie spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Gegenüber der warmen Suppe setzen sich kalte Kerngehäuse und Sauerrahmtupfer sehr schön räumlich in Szene.
Übrigens erlauben Sie sich ruhig den kleinen Spaß, die Gäste danach zu fragen, wie man die Suppe hergestellt habe.

Tipps zur Resteverwertung

Im Verlauf der Zubereitung ergibt sich ein Rest, und zwar das, was nach dem Passieren im Sieb verbleibt. Man kann diese Masse (zu der auch die Kerne gehören) zum Beispiel mit Olivenöl und etwas Tapenade (oder auch etwas Honig und Kräutern) anreichern. Sie wird dann zu einer Art Tomatenchutney.