Bei Ampelanlagen haben viele Städte ihre Eigenheiten und Traditionen. Wien war 2015 Vorreiter bei Ampeln mit homosexuellen Sujets. Im Bild: Ampelmännchen in München.

Foto: APA/dpa/Sven Hoppe

Wien – Der Verkehr gilt nicht unbedingt als Instanz des sozialen Miteinanders: Viele Menschen verwandeln sich hinter dem Steuer in wütende Berserker. Trotz dieses Eskalationspotenzials herrschen auf der Straße nicht Anarchie und Gewalt, sondern immer noch die Verkehrsregeln, die auch mithilfe von Schildern und Lichtsignalanlagen durchgesetzt werden.

Verkehrssteuerung sei deshalb nicht nur stadtplanerisch und technologisch, sondern auch soziologisch ein interessanter Forschungsgegenstand, sagt Susann Wagenknecht vom Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Siegen. "Öffentlicher Raum entsteht erst dann, wenn alle Bürger ihn betreten können und niemand an der Teilnahme gehindert wird." Jedoch bedeutet das auch, zahlreiche verschiedene Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen.

Eine Verkehrskreuzung ist deshalb ein Paradebeispiel dafür, wie gesellschaftliches Zusammenleben organisiert wird: Viele individuelle Wünsche gilt es zu ordnen, damit alle Beteiligten nicht durch chaotische Zustände in Gefahr geraten. Hierbei nehmen insbesondere Ampelanlagen eine zentrale Rolle ein, um Verkehrsströme effizient zu steuern, ohne die Mobilität Einzelner zu stark einzuschränken.

Zur Beleuchtung dieses Zusammenhangs untersucht Wagenknecht derzeit in einer ungenannten deutschen Stadt die Arbeit der Verkehrsingenieure mit dem bestehenden Ampelsystem. "Auch wenn die Verkehrsinfrastruktur auf uns einen starren Eindruck macht, ist die Ampel auf ihre Weise ebenfalls ein Algorithmus – nämlich ein dynamischer Mechanismus zur Lösung eines Problems", sagt Wagenknecht.

Flexibler Algorithmus

Und dieser Algorithmus ist inzwischen flexibler geworden. Die ersten Ampelsysteme leuchteten in der sturen Abfolge eines einprogrammierten Intervalls. Seit sich die Möglichkeiten der Mikroelektronik ab den 1980ern enorm verbessert haben, sind Ampelanlagen zunehmend adaptiv. Damit sind Verkehrsingenieure in der Lage, das System orts- und zeitabhängig spezifischer auf die einzelnen Bedürfnisse zuzuschneiden.

Wie Verwaltung und Bürger darüber kommunizieren, hängt vom Standort ab, sagt Wagenknecht: In Großstädten sei die Bereitschaft, solche Wünsche bei der Gemeinde anzumelden, eher gering, weil man keine Erfolgsaussichten bei einer großen anonymen Stadtverwaltung sehe. Anstatt bessere Schaltzeiten einzufordern, nehmen in Metropolen die Fußgänger lieber ihr Glück selbst in die Hand und gehen häufiger bei Rot über die Ampel als anderswo. In Kleinstädten wiederum sei die Bereitschaft zur Beschwerde erheblich größer. Jedoch haben diese Orte aufgrund von Budget, Personal und Struktur nur geringen Handlungsspielraum. Daher gelänge dieser Dialog am besten in mittelgroßen Städten, in denen sich Bürger noch zu Wort melden und die Beamten darauf auch einzeln reagieren können.

An dieser Schnittstelle komme Wagenknecht zufolge eine sozialwissenschaftliche Betrachtung besonders zum Tragen: "In der Soziologie geht es auch um die Frage: Wer hat die Macht, bestimmte soziale Zusammenhänge durchzusetzen? In diesem Fall zeigt sich, dass das nicht von einem mächtigen Team im Kontrollraum autoritär entschieden wird, sondern zahlreiche Faktoren wie Verkehrsströme, Bürgerwünsche oder Infrastruktur diese Entscheidungen beeinflussen, die immer wieder neu getroffen werden."

Seltenes Gelb auf Fußgängerampeln

Jedoch verschiebe sich diese Machtbalance langsam zu den Firmen hin, die die Technologie und das Know-how zur Verfügung stellen. Diese Systeme werden immer komplexer, wodurch die Gemeinden immer mehr von diesen Unternehmen und ihren Fachleuten abhängig werden. Die Städte müssen sich daher fragen, inwieweit sie hier ihren Handlungsspielraum bewahren wollen. Schließlich hat jeder Ort ein anderes Verkehrsaufkommen oder seine eigenen Traditionen: Düsseldorf zum Beispiel ist die einzige Stadt Deutschlands, in der auch Fußgängerampeln Gelb anzeigen.

Deshalb sind vor Ort auch häufig Verkehrsingenieure am Werk, die die Stadt schon lange kennen und aufgrund von Erfahrungswerten vieles via Bauchgefühl steuern. Denn für eine effiziente Verkehrsplanung, die nicht nur punktuell, sondern flächendeckend und in Echtzeit gesteuert wird, fehlen häufig noch Daten. Um diese zu ermitteln, bedarf es noch einer verbesserten Sensorik.

Dieses Feld erforscht man derzeit am Zentrum für Integrierte Systeme der Donau-Uni Krems – gefördert durch die Europäische Union und das Land Niederösterreich. Dort testet man verschiedene Infrarot- und Magnetfeldsensoriken auf ihre Einsatzmöglichkeiten im Verkehr. Eine Ampel, die autonom situationsbedingt ihre Intervalle verändert und eine grüne Welle macht, wenn es gerade passt, ist langfristig das Ziel.

Fatale Fehleinschätzung

Projektleiter Albert Treytl beschreibt das Anforderungsprofil wie folgt: "Eine intelligente Ampel muss spezifisch auf unterschiedliche Verkehrsteilnehmer reagieren. Dazu müssen die Sensoren komplexe Situationen erfassen, sich auf Umwelteinflüsse einstellen und in Lichtsignalanlagen integrierbar sein." Vom Einsatz dieser Sensorik sei auch eine Verbesserung des Datenschutzes zu erwarten. Dort, wo nämlich bereits Ampeln Daten ermitteln, kommen meistens Kameras zum Einsatz.

Insbesondere verschiedene Umgebungen müssen getestet werden. Wie leicht sich Sensoren außerhalb des Labors täuschen lassen, zeigt ein Beispiel aus den Testreihen: An einer Kreuzung wurde während Bauarbeiten ein großer Sandhaufen aufgeschüttet, dessen Hitzeabstrahlung die Temperaturkalibrierung des Sensors durcheinanderbrachte: Fortan konnte er nur schwer zwischen Fußgängern und Asphalt unterscheiden – in der Praxis eine fatale Fehleinschätzung.

Diese Irrtümer abzustellen und die Detektionsraten zu verbessern ist nun ein erster Schritt. Insgesamt gibt sich Treytl zuversichtlich, dass diese Technologie bald eingesetzt wird und effizientere Verkehrsplanung ermöglicht: "Ich denke, dass der Einsatz von Sensorik im Verkehr den Komfort, die Sicherheit und auch den Klimaschutz verbessern wird."

Aber braucht es die Ampel bald überhaupt noch? Schließlich steht das selbstfahrende Auto vor der Tür, das sich selbstständig seinen Weg bahnen soll und somit keine optischen Anreize im Straßenverkehr braucht.

Vernetzte Verkehrsteilnehmer

Das wird die Ampel jedoch nicht sofort ersetzen, meint Jürgen Krimmling vom Institut für Verkehrstelematik der Technischen Universität Dresden: "In den nächsten zwanzig Jahren wird das noch nicht greifen." Insbesondere das individuelle Bewegungsverhalten von Radfahrern und Fußgängern sei für die Technologie bisher schwer auszuwerten. Auch die Bedeutung der Ampeln bei der Bündelung von Verkehrsströmen sei nicht zu unterschätzen.

Damit das System des autonomen Fahrens zum sicheren Standard wird, müsste erst einmal jeder Teilnehmer vernetzt sein: "Damit sich das selbst organisiert, benötigen wir einen Abdeckungsgrad automatischer Verkehrsteilnehmer von 100 Prozent. Das wird dauern. Und mancher will seinen Oldtimer vielleicht noch ein paar Jahre fahren. Die Ampel wird also nicht so schnell verschwinden." (Johannes Lau, 2.8.2017)