Wenig ist landläufig bekannt über die Musik im europäischen Spätmittelalter (1340-1520), ihre Rezeption und die oft widrigen Lebensumstände der damaligen Musiker. Wissenschafter untersuchten nun mit Unterstützung des Wissenschaftsfonds (FWF) Musik und Alltag in dieser Zeit des Umbruchs und machen Ergebnisse und Hörbeispiele auf einer Online-Plattform und auf CDs zugänglich.

Musik mit hohem Stellenwert

Genauso wie heute lebten Musikern und Sängern im Spätmittelalter in prekären Verhältnissen, obwohl Musik einen hohen Stellenwert hatte, erklärte Musikwissenschafterin Birgit Lodes von der Universität Wien in einer Aussendung des FWF am Montag. Jeder Herrscher, auch die Habsburger Erzherzöge und Kaiser, ließ sich von einer Kapelle besingen und unterhalten, Musik begleitete die damaligen Umbrüche: gesellschaftliche Veränderungen, technologischer Fortschritt, Krieg, Seuchen und Reformation.

Wie der Soundtrack zu dieser bewegten Zeit klingt, kann nun auf der Internet-Seite www.musical-life.net nachgehört werden. Dort machen Lodes und ihr Team die Ergebnisse des Forschungsprojekts mit dem Titel "Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich" zugänglich. Mehrere Jahre beschäftigte sich die Forschergruppe mit dem Zusammenhang zwischen musikalischer Praxis und dem Alltag damals lebender Menschen. Sie brachten verstreut publizierte Fragmente und Notate von Musikstücken aus dem österreichischen Raum mit Erkenntnissen zur Lebenswelt zusammen und setzten Materialität und Spiritualität, volkstümliche und höfische Kulturen, zeremonielle und intellektuelle Traditionen miteinander in Bezug.

"Die heutige Vorstellung vom 'Musikland Österreich' gewinnt durch die kulturwissenschaftliche Arbeit immens an Tiefe – und die Region Österreich verliert noch mehr an nationaler Einheitlichkeit", so Lodes zur APA. Sie beschäftigte sich zum Beispiel mit dem symbolischen Kontext von Jacob Obrechts Missa "Salve diva parens", die anlässlich der Königskrönung Maximilians I. in Aachen 1485/86 entstanden sein dürfte. Neue Erkenntnisse über die bürgerliche Musikkultur erbrachte die Forschungsarbeit von Reinhard Strohm über die Musik an der Kirche zu St. Stephan in Wien und der angeschlossenen Bürgerschule sowie Marc Lewons (beide Universität Oxford) Untersuchungen zur Rezeption des Minnesängers Neidhart im 14. und 15. Jahrhundert.

Ungewohnte Klänge

Neidharts "Der sunnen glanst" in der Fassung der in Wien und Hainburg aufgeschriebenen Eghenvelder Handschrift ist eines von vielen Musikstücken, die im Rahmen des Projekts erstmals aufgenommen wurden. Die Musik des späten Mittelalters klinge anfangs ungewohnt, da Österreichs Musikwahrnehmung auf barocke Musik und die Wiener Klassik fokussiere, erklärte Lodes. Ihr sei es deshalb ein besonderes Anliegen, dafür zu sensibilisieren, welch vielfältige Musikpraktiken das Leben der Menschen im österreichischen Raum schon im 14. bis 16. Jahrhundert geprägt haben.

Im Handel sind zwei CDs mit neuen Einspielungen erhältlich: "Flos viriginum" des Ensembles Stimmwerck und "Argentum et Aurum – Musical Treasures from the Early Habsburg Renaissance" (Ensemble Leones, aus 2015). "Argentum et Aurum" präsentiert einen Überblick über die Musikkultur der Habsburger Dynastie im Spätmittelalter und wurde mit dem International Classical Music Award (ICMA) ausgezeichnet. (APA, 31.7.2017)