"Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es auf Vorstandsebene geheime Absprachen gegeben hat", sagt Helmut Becker.

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STANDARD: Von 1989 bis 1997 waren Sie Chefvolkswirt bei BMW. Wussten Sie von geheimen Zirkeln in der Automobilindustrie?

Helmut Becker: Von geheimen Zirkeln habe ich absolut nichts gewusst. Und ich war immerhin in der strategischen Planung des Konzerns, quasi im Headquarter von BMW.

STANDARD: Dann müssen Sie umso überraschter auf die neuesten Enthüllungen reagiert haben.

Becker: Es gab zahlreiche Arbeitskreise, in denen sich die Branche in Deutschland ausgetauscht hat. Ich saß selber in zwei Arbeitskreisen, eine davon war ein strategischer. Dort wurde über wirtschaftliche Prognosen auf dem Automarkt gesprochen.

STANDARD: Das klingt harmloser, als es dargestellt wird.

Becker: Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste ist, dass der Spiegel, der die Geschichte um geheime Absprachen aufgedeckt haben will, über in der Branche stinknormale gemeinsame Arbeitskreise berichtet hat. Jetzt, in der Gurkenzeit des Hochsommers, wird die Story hochkatapultiert. Die zweite ist, dass die Vorwürfe stimmen. Aber: Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es auf Vorstandsebene geheime Absprachen gegeben hat – über Fragen wie Gurte, Tankgrößen oder Airbags, mit der sich Vorstandsvorsitzende gar nicht befassen.

STANDARD: Was hieße das für die deutsche Automobilbranche, wenn sich der Verdacht erhärten sollte?

Becker: Natürlich, für die Branche wären geheime Zirkel ein Imageverlust. Aber deshalb wird kein einziges deutsches Auto weniger gekauft in Zukunft. Und wer garantiert mir, dass nicht auch die Japaner und die US-Hersteller sich auf Gemeinsamkeiten verständigt haben?

STANDARD: Sie spielen das Ausmaß des womöglich größten deutschen Kartellfalls herunter.

Becker: Der Kunde hat wegen dieser Arbeitskreise mit Sicherheit kein schlechteres Fahrzeug bekommen oder ein Auto, das weniger sicher ist. Wenn es um Normen und Typisierungen gegangen ist in diesen angeblichen Arbeitskreisen, dann war das Ziel der Zusammenarbeit, die Abläufe zu vereinfachen. Möglicherweise mit dem Effekt, dass die Modelle für die Kunden am Ende kostengünstiger waren.

STANDARD: Mutmaßlich war die Absprache auf die kleineren Tanks Ursache der Manipulationen der Abgaswerte bei Dieselfahrzeugen, welche die Branche Milliarden gekostet hat – auch auf Kosten von Kunden und Mitarbeitern.

Becker: Das entbehrt jeglicher Logik. Relevant ist ja die Reichweite des Tanks. Wenn ich als Hersteller überflügeln will, dann baue ich eigenständig einen größeren Tank in mein Modell ein. Das ist ähnlich wie bei den Elektromobilen. Dort stehen die Wettbewerber über die Reichweite ihrer Batterien zueinander im Wettbewerb.

STANDARD: Sie glauben also nicht, dass die gesamte Automobilbranche ins Schlittern gerät – immerhin drohen neben Bußen von den Kartellämtern auch Sammelklagen von geprellten Kunden?

Becker: Ihnen scheinen die Selbstanzeigen, die VW und auch Daimler bei den Kartellbehörden eingereicht haben, Beweise genug zu sein, um die Geschichte der geheimen Zirkel vorbehaltlos zu glauben. Ich gehe davon aus, dass sich VW prophylaktisch selbst angezeigt hat, um wegen völlig harmloser Arbeitskreise nach der Dieselaffäre nicht in den Verdacht kartellrechtlich relevanter Absprachen zu geraten. Und Daimler hat sich womöglich wegen des 2011 aufgeflogenen Lkw-Kartells vorsorglich selbst angezeigt, um sich aus der Schusslinie zu nehmen. (Christoph Reichmuth aus Berlin, 25.7.2017)