Der dänische Familientherapeut, Autor und STANDARD-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: family lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

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Vor einigen Jahren wurde ich um einen Gastkommentar in einem Fachmagazin zu einem Thema meiner Wahl gebeten. Ich entschied mich, meinen Fokus auf die Tatsache zu legen, dass heute immer mehr Kinder und Jugendliche zu einem immer früheren Zeitpunkt Diagnosen erhalten. Aufgrund der zahlreichen Rückmeldungen auf den Artikel, die sowohl zustimmend als auch ablehnend waren, möchte ich meine Gedanken und meine Haltung dazu nochmals zusammenfassen.

Zu allererst will ich darauf hinweisen, dass ich selbst nicht dafür qualifiziert bin, Diagnosen zu stellen. Weder in Bezug auf Menschen, die ich beschreibe, noch auf jene, die ich persönlich kenne. Im Laufe der letzten Jahrzehnte begegnete ich vielen Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Menschen mit einer Diagnose, die mich skeptisch machte. Und ich lernte Menschen kennen, die meiner Meinung nach eine Diagnose bräuchten. Deshalb bin ich eigentlich kein großer Freund von Diagnosen – weder in professioneller noch in menschlicher Hinsicht.

Diagnosen sind schnell zur Hand

So versuche ich die Tendenz jener Eltern zu hinterfragen, die sofort eine Diagnose einholen, sobald es ihnen schwer fällt, das Verhalten ihres Kindes zu verstehen. Oder die ihr eigenes Verhalten niemals als Beitrag sehen, warum es mit dem Kind schwierig ist. Es beunruhigt mich auch, wenn zum Beispiel Lehrer/innen oder Erzieher/innen in die Diagnosestellung involviert sind.

Wir wissen heute so viel über die Bedeutung und den Einfluss der zwischenmenschlichen Beziehungen für und auf unser Wohlergehen. Spezialisten sollten deshalb immer nach Möglichkeit damit beginnen, das Verhalten der Erwachsenen zu ändern oder zu nuancieren, bevor sie beginnen, Kinder zu diagnostizieren. Eltern können das meiner Meinung nach nicht einfordern, aber darauf hinweisen.

Diagnosen als Antworten

Ich erinnere mich an ein Schreiben eines Vaters, dessen neunjähriger Sohn mit Asperger-Autismus diagnostiziert wurde. Davor erlebte die Familie viele Jahre der Frustration und Hilflosigkeit. Nach Diagnosestellung gab es endlich eine Antwort, wie die Eltern mit ihrem Kind besser umgehen können. Es gelang den Erwachsenen in dieser Familie, ihre eigene Haltung und ihr Verhalten zu ändern. Und es wurde ihnen bewusst, dass sie dies bereits Jahre vorher hätten tun können. Für diese Familie war die Diagnose also hilfreich. Abgesehen von der Tatsache, dass niemand jemals eine unangemessene zwischenmenschliche Beziehung zwischen Eltern und Kindern als Auslöser für das Asperger-Syndrom in Erwägung ziehen würde, ist dieser Fall ein gutes Beispiel für eine Diagnose, die einen konstruktiven Effekt auf die Interaktion in der Familie hatte.

Ähnliches erleben wir in einer Beziehung nach langen Phasen der Frustration, Hilflosigkeit und der Konflikte – wenn wir letztlich feststellen, dass ein Partner von einer klinischen Depression betroffen ist. In den letzten Jahren wurden circa 25.000 Dänen mit ADHS diagnostiziert und medikamentös behandelt. Viele berichten von großer Erleichterung und einer Verbesserung ihrer Lebensqualität nach der Diagnose. Es wäre sehr interessant zu erfahren, wie es diesen Menschen in zehn Jahren geht und ob sie immer noch gleich empfinden.

Wenn die Empathie fehlt

Ich möchte ein weiteres Beispiel anführen, für das ich mir eine Diagnose wünsche. Ich bin überzeugt davon, dass eine große Anzahl von Kindern und jungen Menschen gibt, die heute an einem posttraumatischen Stress-Symptom (PTSD) leiden, mit den unterschiedlichsten Verhaltensschwierigkeiten diagnostiziert und auch oft von der Schule gewiesen werden, weil es den Erwachsenen nicht gelingt, empathisch und konstruktiv mit ihnen umzugehen.

Natürlich können Sie, liebe Leserinnen und Leser, nun berechtigterweise fragen, welchen Unterschied es machen würde, wie die genaue Diagnose lautet. Die Antwort ist einfach: Menschen mit PTSD brauchen viel mehr Zuneigung und Sympathie als "zerstörerische und aggressive" Kinder und Jugendliche. Möglicherweise hat es diese Diagnose in Europa "leichter" mit einer anderen Buchstabenkombination, nämlich DSD (Developmental Stress Disorder), wie die Erkrankung in den USA genannt wird. Der zweite und bedeutende Unterschied ist, dass der Therapieverlauf bei Aggression und PTSD ein völlig anderer ist. Klinische Untersuchungen und therapeutische Behandlungen für Traumapatienten haben sich in den letzten Jahren sehr stark entwickelt.

Traumatisierung durch Scheidung der Eltern

Ich bin mir auch sicher, dass wir irgendwann erkennen werden, dass viele Kinder und Jugendliche zum Beispiel durch die Scheidung ihrer Eltern traumatisiert sind, oder vielmehr durch das destruktive Verhalten der Eltern vor, während und nach einer Scheidung. Wir wissen von diesen Effekten auf die Kinder, nur gibt es keine offiziellen Zahlen oder Stellungnahmen. Die gute Nachricht ist, dass eine Heilung völlig ohne Medikation und innerhalb des schulischen Umfeldes möglich ist.

In diesem Zusammenhang möchte ich alle Forscherinnen und Forscher dazu einladen, das Phänomen kindlicher Traumatisierung durch Scheidung tiefgehend, ausführlich und qualitativ zu untersuchen. Denn Scheidungskinder fühlen sich in zwei ernsten Dilemmata gefangen: Die eine Hälfte der Kinder wird leise, einsam und introvertiert. Die andere wird einsam, schwierig und aggressiv. Wir wissen, dass die Kinder mit ihren Eltern kooperieren wollen und dass eine Scheidung mittlerweile als sozial anerkannt gilt. Ein Nebeneffekt für die Kinder ist deshalb, dass sie ihre eigene Erfahrung und ihren Schmerz als ungewöhnlich oder falsch empfinden.

Warum Kinder trauern sollten

Es gibt in fast jeder Schulklasse mindestens drei Kinder, die die Scheidung ihrer Eltern erlebten und keine Probleme damit erkennen lassen. Gerade Scheidungskinder haben das dringende Bedürfnis, sich neutralen Erwachsenen oder einer gleichgesinnten Gruppe von Kindern anzuvertrauen. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, dass Scheidungskinder, Kinder mit psychisch kranken Eltern und Kinder, die einen Elternteil verloren haben, gemeinsam trauern.

Denn die Gruppe ist nicht nur für die persönliche und soziale Existenz des Einzelnen wertvoll, sondern kann auch ernstere psychologische wie soziale Probleme verhindern helfen. Außerdem handelt es sich bei diesen "Trauergruppen" um eine einfache und kostengünstige Lösung.

Es gibt viele empathische und kompetente Lehrer/innen, Sozialarbeiter/innen und Schulpsycholog/innen. Was spricht also dagegen, dass den Kindern direkt in der Schule geholfen wird? Als zusätzlicher Nebeneffekt ergibt sich aus diesen Gruppen, dass unser Blick auf die Kinder und ihr Verhalten viel nuancierter wird. Wir Erwachsene erlangen dadurch eine höhere Eigenkompetenz, werden zu besseren "Sparringspartnern" für die Kinder. Und viele Diagnosen und die damit verbundenen "aufgedrückten Stempel" könnten vermieden werden. (Jesper Juul, 30.7.2017)