Grüße aus New York City: Diese hübsche Postkarte schickte der Autor der Geschichte an die Standard- ALBUM-Redaktion und kam gleich mit einer Strand-Story zurück aus den Staaten: "Es ist unmöglich, genau das Buch zu finden, das man gesucht hat", meinte David Bowie, der in der Nähe wohnte, "aber man findet immer ein Buch, von dem man gar nicht wusste, dass man es haben wollte."

Foto: Heidi Seywald

Strand im Jahr 1938.

Foto: Strand Bookstore

Ein Buchgeschäft wie Strand sollte es eigentlich gar nicht geben. In einer Branche, die so im Umbruch ist wie der Buchhandel, in der Ketten untergehen und Kleinstbetriebe in Nischen blühen, in der seit mehr als einem Jahrzehnt mit Besorgnis oder mit großen Hoffnungen über die Digitalisierung von allem Gedruckten spekuliert wird, steht der vierstöckige Laden an der Ecke Broadway und 12. Straße wie ein Fels aus vergangenen Zeiten. Strand ist denn auch heuer 90 geworden. Doch von Altersschwäche keine Spur.

Dem Buchgeschäft Strand ist der Spagat gelungen, bei New Yorkern wie bei Touristen gleichermaßen beliebt zu sein – für den deutschen Tripadvisor ist Strand die Nummer vier der beliebtesten Sehenswürdigkeiten.
Foto: Strand Bookstore

An einem typischen Tag, auch sonntags, drängen sich von Vormittag bis halb elf in der Nacht Menschen durch die Gänge. Sie blättern, schnuppern, lassen sich inspirieren und verführen. Sie kaufen schließlich vielleicht ein Buch, vielleicht auch fünf oder eine ganze Tragekiste voll. Rund 6000 Besucher kommen täglich, sagt Leigh Altshuler, Kommunikationschefin von Strand. An leichtes Durchkommen ist nicht zu denken. Bereits der Gehsteig vor den Dutzend Schaufenstern ist von Wühlkisten – "Specials", "A book for a buck" – gesäumt. Drinnen türmt sich das Angebot auf Tischen und in Regalen, die die loft-artigen Stockwerke in enge Labyrinthe verwandeln.

Wie viele Bücher Strand im Angebot hat, ist Teil des Firmenslogans geworden. Elf Meilen lang seien sie aneinandergereiht, hieß es vor vielen Jahren. Irgendwann wurde auf "18 Miles of Books" aufgestockt. In Wirklichkeit, sagt Altshuler, seien es mittlerweile 23 Meilen. In eine gängige Währung übersetzt, wären das mehr als 8000 zwei Meter hohe randvolle Billy-Regale von Ikea. Viele Bücher lagern in zwei Außendepots, ständig wird hin- und hertransportiert.

Doch nicht die schiere Menge an Lesbarem ist es, die Strand zu etwas Besonderem im New Yorker Kulturleben gemacht hat. Die Kette Barnes & Noble mit ihren mehr als 600 Läden in den USA hat sicher noch mehr Meilen Lesestoff lagernd. Auch die Gewissheit, hier prinzipiell etwas weniger zu zahlen – seien es ein paar Prozent, sei es die Hälfte oder eben überhaupt nur ein Dollar -, ist nicht entscheidend. Mezzien gibt es anderswo ebenfalls.

Straße der Literaten

Wichtiger dürfte sein, dass Strand sich über die Jahrzehnte zu einer Institution entwickelt hat, die im Bewusstsein vieler lesender Stadtbewohner nicht wegzudenken ist. Daran haben Geschichte, Firmenkonstruktion, kluge Entscheidungen in Krisenzeiten und gutes Marketing ihren Anteil, wie immer auch die Lage und sicher eine Portion Glück.

Die Fourth Avenue wurde auf der Höhe des East Village ab der Wende zum 20. Jahrhundert als "Book Row" bekannt. Fast 50 Buchläden drängten sich in der Nachbarschaft. Das von Benjamin Bass 1927 gegründete war eines von ihnen. Er benannte sein Geschäft nach dem Londoner Strand, seinerzeit eine Straße der Literaten, und nach dem gleichnamigen Magazin, in dem Arthur Conan Doyle seine Sherlock-Holmes-Geschichten veröffentlichte.

Literatur war vorrangig, auch unter dem Sohn Fred. Er übersiedelte mit dem Unternehmen ans andere Ende des Häuserblocks. Das war doppelt praktisch, weil der Familie das Haus gehörte und immer noch gehört (während die meisten anderen Läden der "Bücherstraße" an den ständig wachsenden Mietkosten scheiterten) und weil sich dort am Broadway, zwischen dem Union Square und der New York University, mehr Leben abspielt als auf der Avenue. Heute führt Nancy Bass Wyden das Geschäft in der dritten Generation.

Nancy Bass Wyden und Fred Bass im Strand.
Foto: Strand Bookstore

Wegen der günstigen Lage, der niedrigen Preise und der Affinität der Besitzer zu Politik und Literatur wurde Strand zum Magneten für die Bohème des Village – als Kunden und als Mitarbeiter. Tom Verlaine etwa, der Singer-Songwriter, arbeitete im Postversand. "Die Alten warfen uns Bücher zu und sagten: Lest das mal!", erinnerte er sich in einem Interview. So sei er zu jeder Menge inspirierender Lektüre gekommen. Auch Patti Smith, die mit ihm befreundet war, jobbte kurz bei Strand. Sie war weniger begeistert. "Ich hab im Keller gearbeitet", erzählte sie dem New York Magazine, "und es war nicht besonders freundlich dort."

Vorher war sie übrigens jahrelang in der Buchhandlung des Scribner-Verlags beschäftigt. Deren Schicksal wirft indirekt ein Licht auf die Entwicklung von Strand. Scribners Laden lag in einem der schönsten Häuser der Fifth Avenue. In den 1980er-Jahren gingen die Geschäfte immer schlechter, der Verlag zog mitsamt dem Retail-Shop aus. Zuerst kaufte Benetton das unter Denkmalschutz stehende Gebäude, jetzt nutzt es die Parfümeriekette Sephora.

Der Name Scribner wurde von der Kette B. Dalton erworben, die ihrerseits bereits Barnes & Noble gehörte, dem Riesen, der durch Expansion und Übernahme von konkurrierenden Unternehmen zur Nummer eins der Branche wurde. Die fetteste Beute war Borders, ein Buch- und Musikeinzelhändler mit mehr als 500 Läden und fast 20.000 Angestellten.

Fette Beute

Was das mit Strand zu tun hat? Nun, abgesehen davon, dass der erste, der Ur-Barnes & Noble nur fünf Straßen entfernt lag: Strand hat die Entwicklungen der Branche sozusagen von der Seite beobachtet. Es hat miterlebt, wie die Ketten einige der schönsten kleinen Buchgeschäfte der Stadt ruiniert haben. Es war und ist zu groß, um am Rande zu verkümmern. Es ist im Familienbesitz, steht also nicht unter dem Zwang, Aktionären Gewinne auszuzahlen und rasant größer zu werden – oder zu verkaufen.

Das New Yorker B&N-Flaggschiff steht am Union Square, in unmittelbarer Nähe zu Strand. "Aber wir sehen das nicht als Konkurrenz", sagt Altshuler, "das sind andere Kunden. Unsere wollen diese ganz bestimmte Strand-Erfahrung."

Die Dynamik, dass Ketten den unabhängigen Läden zu schaffen machen, ist natürlich nicht auf New York oder die USA beschränkt. Wer erinnert sich noch an die gut sortierten Buchhandlungen in Wien, Prachner etwa an der Kärntnerstraße? Oder Sallmayer am Neuen Markt mit dem kuriosen Dreifachschwerpunkt Militaria, Autos und Comics; oder Gerold, Krey, Braumüller, Berger, alle in der Innenstadt und die meisten durch Schmuck- und Modeläden ersetzt ...

Bücher nach Farben geordnet.
Foto: Strand Bookstore

Mittlerweile ist Barnes & Noble selber in der Bredouille (von europäischen Ketten hört man Ähnliches). Seine schiere Größe verursacht Kosten, die Amazon und die ganze Online-/E-Book-Branche nicht haben.

Strand hat die Situation relativ früh erkannt und offenbar umsichtig gehandelt. Eine Zweigstelle im Finanzdistrikt wurde wegen zu hoher Kosten wieder geschlossen. Ein paar in der Stadt verteilte pop-up-mäßige Kioske und ein Shop-in-Shop in der Großboutique Club Monaco lassen sich günstig führen. Ein lange währender Lohnkonflikt mit den gewerkschaftlich organisierten Mitarbeitern konnte vor fünf Jahren beigelegt werden – glücklich waren die Arbeitnehmer nicht, aber von Verhältnissen wie bei Amazon sind sie weit entfernt. 23 Meilen weit sozusagen.

Und online können Bibliophile unter den zweieinhalb Millionen Büchern grasen und überlegen, ob das Budget für eine Tom-Sawyer-Erstausgabe um 8500 Dollar reicht oder doch nur für die Taschenbuchausgabe um 2,50. Von Ulysses, signiert von James Joyce, um 38.000 Dollar, wollen wir gar nicht reden. Laut Altshuler zählt die hervorragend gestaltete Website täglich 20.000 Besucher.

Foto: Strand Bookstore

Es gibt auch in europäischen Städten, so wie in New York, ein Beharren und sogar eine Renaissance unabhängiger Buchläden (um wieder einige Wiener Beispiele zu nennen: Posch, Eckart, Anna Jeller, Salanda, Leporello, Seeseiten, 777 u. a. m.). Das Besondere an Strand, für die New York Times "the undisputed king of the city's independent bookstores", ist, dass es Dank seiner Größe eine Leuchtturmfunktion in der Stadt hat (und angeblich nicht die anderen Indies verdrängt, sondern mit ihnen sogar kooperiert) und dass es trotz seiner Größe ein Laden zum Angreifen geblieben ist. Es ist ihm sogar der Spagat gelungen, bei New Yorkern wie bei Touristen gleichermaßen beliebt zu sein – für den deutschen Tripadvisor ist Strand die Nummer vier der beliebtesten Sehenswürdigkeiten. Dass das Geschäft in Filmen wie Julie & Julia und Das Leben – Ein Sechserpack vorkommt, hat auch nicht geschadet. "Wenn Kunden zu uns kommen", sagt Bass Wyden, "dann verlangsamt sich für sie die Zeit, und in unserer chaotischen Stadt brauchen wir das."

"Es ist unmöglich, genau das Buch zu finden, das man gesucht hat", meinte Pop-Legende David Bowie, der in der Lafayette Street in der Nähe wohnte, "aber man findet immer ein Buch, von dem man gar nicht wusste, dass man es haben wollte."

Garantie für die Zukunft gibt es keine, schon gar nicht in New York. Hier gilt noch mehr, was die Wiener auf die Erfolgsgeschichten in ihrer Stadt gemünzt haben, nämlich dass schon Hausherrn g'storb'n sind, dass auch Unternehmer mit Geschäft im eigenen Haus pleitegehen können. Ein beunruhigender Gedanke: Das könnte irgendwann auch der Familie Bass Wyden zustoßen. Ein beruhigender Zusatz: Es ist, auf absehbare Zeit, eher unwahrscheinlich. (Michael Freund, Album, 22.7.2017)