Seit dem 26. Juni haben türkische Truppen verstärkt damit begonnen den kurdischen Bezirk Afrîn im Westen Syrisch-Kurdistans von türkischem Staatsgebiet aus zu beschießen. Dabei wurden nicht nur Stellungen der kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ beschossen, sondern auch immer wieder Zivilisten getroffen.
Es ist fraglich, ob es die Türkei bei Luftangriffen belassen wird, oder nicht doch grünes Licht von Russland für eine Invasion mit Bodentruppen erhält.

Auch in Afrîn sind die Frauenverteidigungseinheiten an der Verteidigung des Bezirkes beteiligt.
Foto: Thomas Schmidinger

Größte jesidische Enklave in Syrien

Afrîn ist jedoch nicht irgendeine kurdische Enklave, sondern auch das größte Siedlungsgebiet der Jesiden in Syrien. Insbesondere die Angehörigen dieser über Jahrhunderte hinweg immer wieder verfolgten Minderheit, die zuletzt im August 2014 zum Opfer eines Genozids durch den IS im Irak wurde, wäre angesichts der türkischen Verbündeten in der Region bei einem Einmarsch der Türkei akut gefährdet.

Kämpfer der dschihadistischen Jabhat al-Nusra und des IS haben seit 2013 immer wieder gezielt Dörfer angegriffen und Massaker an jesidische Zivilisten verübt. In Syrien leben die kurdischsprachigen Jesiden überwiegend in den Bezirken Afrîn und Cizîrê. Aufgrund der spezifischen Bedrohung durch den IS, aber auch durch andere dschihadistischen Gruppen, haben allerdings in den letzten beiden Jahren besonders viele Jesiden den Weg ins Exil gesucht. Niemand weiß heute wie viele überhaupt noch in Syrien leben. Auch seriöse Zahlenangaben variieren von einigen tausend bis zu über dreißigtausend Personen.

Außerdem wurden die syrisch-kurdischen Jesiden auch in innerkurdische Konflikte hineingezogen. Es gibt mehrere rivalisierende Dachverbände, die entweder der regierenden Schwesterpartei der PKK, der PYD nahestehen oder Mitglied des oppositionellen Kurdischen Nationalrates ENKS sind. Traditionelle Jesiden übten immer wieder Kritik an Versuchen von PKK-nahen Organisationen ihre Religion als Teil des Zoroastrismus, der vorislamischen Religion des Iran, zu deuten. Die Errichtung einer Zarathustra-Statue vor dem jesidischen Zentrum in Afrîn hatte in den letzten drei Jahren immer wieder für innerjesidische Diskussionen gesorgt.

Das Haus der Jesiden mit einer umstrittenen Zarathustra-Statue in der Kantonshauptstadt Afrîn.
Foto: Thomas Schmidinger

Besonders schwierig ist die Situation der Jesiden auch deswegen, dass viele ihrer Dörfer am Rand des kurdischen Siedlungsgebietes liegen und deshalb für Angriffe des IS, aber auch der Jabhat al-Nusra und der islamistischen Rebellenmiliz Ahrar ash-Sham gefährdet sind.

Die meisten jesidischen Dörfer liegen zwischen der Stadt Afrîn, der überwiegend von protürkischen und dschihadistischen Gruppen kontrollierten Stadt Azaz und dem im Süden liegenden Gebirgsmassiv des Jebel Siman (Simonsberg). Die insgesamt 26 jesidischen Dörfer der Region liegen oft direkt an der Frontline rivalisierender arabischer und dschihadistischer Oppositionsgruppen.

Jesidischer Friedhof im Dorf Gundê Faqîra im Süden des Kantons Afrîn.
Foto: Thomas Schmidinger

Einen Vorgeschmack auf mögliche Vertreibungen der Jesiden gab es bereits am 12. Juni, als die jesidischen Einwohner des kleinen Dorfes Elî Qîno im Nordwesten aus der Stadt Azaz vertrieben wurden. Das sehr kleine Dorf liegt westlich des Sperrwalls, den die YPG/YPJ an der Grenze des von ihnen kontrollierten Gebietes errichtet hatten und stand damit de facto unter Kontrolle protürkischer Rebellen. Also genau jener Milizen, die im Fall eines türkischen Einmarsches mit Bodentruppen wohl mit zum Einsatz kämen. Am 12. Juni hatten diese der jesidischen Bevölkerung des Dorfes eine Stunde Zeit gegeben, ihre Häuser zu verlassen. Droht nun, nach dem Genozid gegen die Jesiden im irakischen Sinjar auch ein Genozid gegen die Jesiden in Syrien? Und wird auch diesmal Europa erneut tatenlos zusehen? (Thomas Schmidinger, 26.7.2017)

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