Ruth war 32 Jahre alt, als sie wegen starker Blutungen im Unterleib in die Notaufnahme eingeliefert wurde. Sie wusste, dass sie während ihrer Kindheit und Jugend oft zu Ärzten gebracht, sogar mehrmals operiert wurde. Warum, das hatte ihr nie jemand gesagt. Wegen der Ungewissheit entwickelte sie eine posttraumatische Belastungsstörung. Doch an diesem Abend in der Notaufnahme riet ihr ein Arzt, ihre medizinischen Unterlagen aus ihrer Kindheit und Jugend zu organisieren. Dann könnte er ihr erklären, was mit ihr los sei.

Der Endokrinologe aus ihrer Kindheit verwehrte ihr den Zugang zu den Akten. Sie wartete, bis er nach Hause fuhr, und brach in seine Praxis ein. Noch am Parkplatz blätterte sie die Unterlagen durch. Immer wieder kamen die Worte "männlicher Hermaphrodit mit komplett weiblichem Erscheinungsbild" vor. Und der Zusatz, dass die Patientin nichts davon weiß. Den Eltern und dem Arzt war es unangenehm, mit Ruth das Gespräch zu führen, dass sie als Intersex-Person zur Welt gekommen war.

Rund 1,7 Prozent der Bevölkerung sind intergeschlechtlich.
Foto: APA/AFP/MIGUEL SCHINCARIOL

Interviews mit Betroffenen

Heute ist Ruth 60 Jahre alt und erzählt ihre Erlebnisse in einem Bericht für Human Rights Watch mit dem Titel: "Ich will so sein, wie mich die Natur geformt hat: Medizinisch unnötige Operationen an Intersex-Kindern in den USA", der am Dienstag veröffentlicht wurde.

Die Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation sammelten in Interviews mit Intersex-Personen, Eltern von Intersex-Kindern und Mitarbeitern im medizinischen Bereich, Berichte über die Behandlung von Betroffenen in den Vereinigten Staaten. Erlebnisse wie die von Ruth sind keine Ausnahme bei Intersex-Personen, die in den 1950er- bis 1970er-Jahren geboren wurden. Damals wurde darüber geschwiegen, dass die Babys mit atypischen Chromosomen, Keimdrüsen und internen oder externen Geschlechtsteilen zur Welt gekommen sind. Die Folge waren Operationen – vor allem der Geschlechtsteile. Und das zu einem Zeitpunkt, in dem das Kind noch nicht selbst sein Geschlecht bestimmen kann.

Ein Video von Human Rights Watch über die Folgen der Operationen von intergeschlechtlichen Kindern.
HumanRightsWatch

1966: Paradigmenwechsel

Schätzungsweise sind rund 1,7 Prozent der Bevölkerung Intersex-Personen – ungefähr eines von 2.000 geborenen Babys. Bis in die 1960er-Jahre waren die Ärzte in den USA der Ansicht, dass man ein Kind in einem sozialen Geschlecht erziehen kann ohne seinen Körper zu operieren. Im Jahr 1966 jedoch führten die Äußerungen eines einzelnen Arztes zu einem Umdenken in der US-Medizin, dessen Geist noch heute nachwirkt. John Money war Psychologe an der John Hopkins Universität in Baltimore und führte die Begriffe "Geschlechtsidentität" und "Geschlechterrollen" ein. Er war der Meinung, dass das Geschlecht bei Kindern wandelbar ist. Er riet deshalb zu Operationen bei Intersex-Kindern.

"Noch immer gibt es Mediziner, die solche Eingriffe vornehmen", sagt Kyle Knight, einer der Studienautoren von Human Rights Watch zum STANDARD: "Sie führen an, dass es noch keine valide Forschung gibt, die eine negative Auswirkung solcher Operationen bestätigt." Das liege aber daran, dass es sehr wenig Forschung zu dem Thema gebe. "Wir wissen aber aus Erfahrung, dass in den meisten Fällen die Operationen katastrophale Auswirkungen auf die Betroffenen haben", sagt Knight. Wenn die Medizin noch 20 Jahre für die Forschung fordere, dann sei das "Missbrauch der Intersex-Personen, die in dieser Zeit noch behandelt werden", so der Menschenrechtler.

Positive Änderungen

Was sich allerdings in den vergangenen Jahren in den USA verbessert habe, sei die Kommunikation mit den Kindern und ihren Eltern. Zwar würden hie und da intergeschlechtliche Personen noch über ihr "Mysterium" im Dunkeln gelassen, doch in den meisten Fällen werde offen über den Körper gesprochen, sagt Knight. Auch die Bildung spezieller medizinischer Teams, die bei intergeschlechtlichen Kindern zum Einsatz kommen, wird in dem Bericht begrüßt. Fast jeder interviewte Mitarbeiter im Gesundheitssystem habe von einer positiven Auswirkung der Gruppen berichtet, die unter anderem psychologisch geschultes Personal beinhalten.

Operationen in Österreich

Auch hierzulande hat sich in den vergangenen Jahren etwas bewegt, sagt Tobias Humer vom Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreich: "Intergeschlechtlichkeit wird weniger tabuisiert, es wird offener kommuniziert."

Zwar gebe es in Österreich keine Zahlen zu den durchgeführten Operationen, doch gibt es immer wieder Berichte von Eltern, die Druck auf Ärzte ausüben, um ihrem Kind ein "normales" Geschlecht zu verpassen – und umgekehrt. Humer verweist auf eine Studie der Berliner Humboldt-Universität aus dem Vorjahr. Obwohl seit 2005 in Deutschland die medizinischen Richtlinien für intergeschlechtliche Menschen immer wieder überarbeitet wurden, ist die Zahl der Operationen nicht wesentlich zurückgegangen. Noch immer werden in Deutschland jährlich rund 1.700 solcher Eingriffe durchgeführt. Dabei nicht eingerechnet sind Eingriffe, die ein lebensbedrohliches Problem beseitigen sollen.

Auch in den USA gibt es nur dünnes Datenmaterial, da es keine verpflichtende Meldung von Intersex-Operationen gibt. Studien müssen sich auf freiwillige Auskünfte stützen, Artikel in medizinischen Fachzeitschriften zeigen nur einen Ausschnitt des Ganzen.

Traumen Betroffener

Während seiner Recherche für den Bericht über die Lage in den USA war Knight überrascht, mit wie vielen Traumen Personen leben, die von unfreiwilligen Operationen betroffen sind. "Mit den körperlichen Auswirkungen habe ich gerechnet, aber die psychische Dimension des Problems habe ich nicht erwartet", sagt er. "Selbst wenn wir morgen mit den Operationen aufhören würden, würde es Jahrzehnte dauern, bis wir den Betroffenen einen Teil ihrer Würde wieder zurückgeben können."

In den USA forderten im Juni drei ehemalige "surgeon generals", die Leiter des öffentlichen Gesundheitssystems, einen Stopp der Eingriffe, die ohne Zustimmung der intergeschlechtlichen Menschen erfolgen. Human Rights Watch fordert unter anderem auch die Justizminister der US-Bundesstaaten auf, bereits vorhandene Gesetze gegen Genitalverstümmelungen und zum Schutz von Kinderrechten umzusetzen. Auch hoffen die Menschenrechtler auf das Treffen der Amerikanischen Ärztekammer (American Medical Association) im Herbst. Dort beschlossene Richtlinien hätten eine weitreichende Auswirkung auf die Behandlung intergeschlechtlicher Meschen.

Auch in Österreich fordern Interessenvertreter und Ärzte ein gesetzliches Verbot von solchen Eingriffen, stärkere Antidiskriminierungsgesetze und Aufklärung, sagt Humer: "Um die Lage der Betroffenen sichtbar zu machen." (Bianca Blei, 27.7.2017)