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Letzter Akt: Vor dem Präsidentenpalast in Ankara weihte Erdoğan am Sonntag ein Putschdenkmal ein.

Foto: AP / Presidency Press Service

Istanbul/Athen – Als Tayyip Erdoğan am neuen Märtyrerdenkmal vorbei den Weg hinunter zu den Hunderttausenden geht, die an der Auffahrt zur Bosporusbrücke auf ihn warten, lässt er erstmals die Hand seiner Frau los. Emine Erdoğan hat ihr Kopftuch, das sie so dick gefaltet zu tragen pflegt, dass es wie ein Helm wirkt, dieses Mal etwas aus der Stirn gezogen, wohl um sich ein bisschen Kühlung zu verschaffen. Eine Viertelstunde ist das Paar zu Fuß gelaufen, von der Residenz des Präsidenten in Kisikli auf der asiatischen Seite Istanbuls hinunter zur Bosporusbrücke, begleitet von einem sorgsam choreografierten Zug von Hinterbliebenen der Opfer und von Helden des vereitelten Staatsstreichs vor einem Jahr.

Ein Meer roter Nationalfahnen und hochgereckter Mobiltelefone mit eingeschalteter Kamera wartet auf den türkischen Staatschef. Erdoğan beginnt zu winken. Er tut das mit beiden Händen und legt dabei automatisch die Daumen in die Handteller, sodass jeweils nur vier Finger zu sehen sind, das Symbol des Widerstands der ägyptischen Muslimbrüder gegen die Armee. Wenig in dieser Nacht des Gedenkens in der Türkei wird versöhnlich, alles aber politische Abrechnung und religiöser Aufruf sein.

Wahlkampf auf der Bühne

Gegen zehn Uhr abends am Samstag, nach Nationalhymne und langer Koranlesung, steigt der türkische Staatspräsident auf die enorme Bühne, die vor der Brücke aufgebaut worden ist. Am 15. Juli vor einem Jahr waren um diese Uhrzeit plötzlich Panzer aufgefahren und hatten die Bosporusbrücke in Istanbul blockiert. Der Putsch begann. Anders als sein Regierungschef Binali Yildirim, der vor ihm gesprochen hat und eine kurze, gravitätische Rede hielt, nimmt Erdoğan das Mikrofon in die Hand und beginnt auf der Bühne auf- und abzugehen, brüllt ins Publikum und spricht dann wieder mit leiser, Nachdenklichkeit suggerierender Stimme, als sei all dies hier ein Wahlkampftermin.

Kemal Kiliçdaroğlu, den Chef der größten Oppositionspartei, verhöhnt er als Feigling. "Dieser Herr ging nicht nach draußen, er fürchtete sich. Er wartete", sagt Erdoğan über Kiliçdaroğlu in der Putschnacht. Die Behauptung des Oppositionsführers, am 15. Juli sei in Wahrheit ein "kontrollierter Putsch" abgelaufen, ein Staatsstreich, von dem der Präsident und die Seinen wussten und den sie für ihre Zwecke ausnutzten, macht Erdoğan über alle Maßen wütend.

Der Präsident grüßt

Und dennoch ist der mit Menschenopfern vereitelte Putsch die Grundlage für Erdoğans neue Herrschaft geworden. Noch am Vorabend der großen Gedenkveranstaltungen in Istanbul und Ankara lässt Erdoğan ein weiteres Notstandsdekret veröffentlichen. Nochmals mehr als 7000 Polizisten und Ministerialbeamte werden wegen angeblicher Zugehörigkeit zur Bewegung des Predigers Gülen entlassen; fast 160.000 Türken sind es nun, die innerhalb dieses einen Jahres aus dem Staatsdienst entfernt wurden. Auch der Ausnahmezustand wird nochmals verlängert, kündigte bereits Erdoğans Premier an.

Wie weit der Präsident bereits in den Alltag eingreift, merkten die Türken in der Nacht auf Sonntag an ihren Mobiltelefonen. Wer jemanden anrufen wollte, hörte auf seinem Telefon zuerst eine 16 Sekunden lange Grußbotschaft Erdoğans zum Gedenktag an den Putsch.

"Verrätern den Kopf abreißen"

Doch selbst an einem solchen Tag durfte das Thema der dunklen Verschwörungen gegen die Türkei und ihr Volk nicht fehlen. Hinter der Gülen-Bewegung, die Ankara für den Putsch verantwortlich macht, hinter PKK und der Terrormiliz "Islamischer Staat" stünden andere, erklärte Erdoğan. "Wir wissen das genau", behauptete er ohne weitere Erläuterungen. Dann droht er den Putschisten, denen derzeit landauf, landab der Prozess gemacht wird: "Zunächst werden wir diesen Verrätern den Kopf abreißen!" Das Publikum johlt. Es ist der Höhepunkt der Gedenkrede in Istanbul, so grotesk anmutend, dass er schon an die Herzkönigin in Alice im Wunderland erinnert, die immer nur "Kopf ab!" anordnet.

Vor dem Parlament in Ankara, in der zweiten Rede in dieser Nacht, bekräftigt Erdoğan seinen Entschluss. Er werde ein Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe unterschreiben, wenn das Parlament dafür ist. (Markus Bernath, 16.7.2017)