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Der Stinkefinger als Symbol der Zeit: Die Beleidigungen werden dich – "#Arschloch!" – finden. Verbale Vernichtungsfeldzüge und verödete Diskurslandschaften sind die Regel, nicht mehr die Ausnahme.

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"Ist Trumps Vulgarität zur neuen Normalität geworden?" Das fragte "Vanity Fair" vor wenigen Tagen mit beinahe zitterndem Gestus. Wer sich in der Welt umschaut, möchte meinen, keine andere Antwort käme infrage als ein ganz klares Ja.

Allenthalben sind zähnefletschende Überspanntheit, Schamlosigkeit und niedere Instinkte. Das Internet – in weiten Teilen eine digitale Kloake aus deviantem Exhibitionismus, unverhohlenem Hass und Exzessen der Taktlosigkeit. Die Politik voller Niedertracht und Unverschämtheiten. Und über allem – als Präsident, als König, ja, als Kaiser der Pöbelei – Donald John Trump.

Der Großmeister der Grobheit kann öffentlich und ungestraft Behinderte nachäffen, über das Begrapschen oder die Menstruation von Frauen schwadronieren, Madame Macron beleidigen. Er darf jeden beschimpfen, der ihm vor die Nase kommt. Die soziale Ächtung eines großen Teils der Gesellschaft perlt spurlos an ihm ab, weil ein noch größerer Teil seine ordinären Ausfälle gutheißt oder sich zumindest daran erheitert.

Erfolg(smodell) Gemeinheit

Donald Trump ist der personifizierte Normbruch. Mit seinem Wahlsieg hat das Pendel von der Seite hyperrücksichtsvoller politischer Korrektheit ins Feld gnadenloser Unflätigkeit ausgeschlagen. Sein Status mag der eines begüterten Hausbesitzererben sein, sein Habitus ist derjenige des geifernden Proleten. Trump ist vergoldete Geschmacklosigkeit. Er ist das wandelnde Prinzip Vulgarität: Erfolg durch Gemeinheit, Gemeinheit als Erfolg.

Der deutsche Soziologe Wolfgang Sofsky schreibt in einem Text mit dem Titel "Vulgarität – die Anpassung nach unten": "Mitnichten ist Geschmacklosigkeit auf die unteren Klassen beschränkt. Das Hässliche, Rohe und Bösartige beherrscht alle Subjekte, die ihren spontanen Regungen folgen. Sie haben keinen Anstand, weil sie keinen Abstand zu sich selbst haben. Vulgarität ist die Extremform der Unhöflichkeit. Sie missachtet jede Etikette – im Namen der Wahrhaftigkeit, Natürlichkeit oder der lebensfrohen Geselligkeit."

Masturbationsszenen

Damit lassen sich Trump, Silvio "Bunga Bunga" Berlusconi, Marine Le Pen oder ein vom Bierzeltfuror gepackter Heinz-Christian Strache einordnen. Genauso trifft es auf Möchtegern-Gangsterapper zu, in deren Texten in jeder zweiten Zeile mindestens ein "Fick dich!" vorkommt. Oder auf den ehemals so herzigen Kinderstar Miley Cyrus, der in einem Video symbolisch mit einer Abrissbirne kopuliert und auf Konzerten mit einem Schaumgummifinger Masturbationsszenen vorspielt.

Vieles davon mag als kalkulierte Provokation gedacht sein, dennoch verschwimmen die Grenzen zur tatsächlich ernstgemeinten Schamlosigkeit. Matthias Dusini schrieb im "Falter" über die eben zu Ende gegangene Modenschau im Belvedere ("Vulgär? Fashion Redefined") von "der Verwandlung von sozialem Elend in einen Lebensstil".

Boulevardisierung

Für Distinguiertheit, Zurückhaltung und Contenance gibt es in Zeiten von Social Media und umgreifender Boulevardisierung kaum noch Raum. Lieber gleich losplärren, als zu spät dran sein. Wer sich nicht umfassend äußert, existiert nicht. Das ist die gesellschaftliche Geschäftsgrundlage der Klatschspaltenkreaturen von Richard Lugner bis Daniela Katzenberger.

Diese Herrschaften seien doch bedeutungslos? Im Gegenteil. Mag deren Unterhaltungswert für ein reflektierteres Publikum auch begrenzt sein. Die Verheerungen, die "Mausi", "Hasi", "Katzi", "Spatzi" und Konsorten anrichten, sind es nicht. Noch einmal Wolfgang Sofsky: "Im Regime des Pöbels gilt nur mehr die Rüpelei der Niedrigen. Hier gilt die Ideologie der Gleichheit. Sie sorgt dafür, dass niemand mehr ein höheres Niveau erreicht. Denn sie drückt alle Menschen hinab auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: die Regungen der animalischen, physischen Existenz."

Ohne Scham und Schuld

Scham und Schuld seien dem Vulgären fremd. Impulskontrolle, Form, Grenzen und Mitgefühl ebenso. "Vulgarität", schreibt der Soziologe und Essayist, "zerstört die Grundlagen der Gesellschaft. Sie streicht jeden Respekt und erzeugt ein Klima gegenseitiger Verachtung und Feindseligkeit. Sie verdrängt die freundliche Geste durch rüde Gebärden und führt so geradewegs in einen Zustand, wo jeder den anderen mit sich selbst terrorisiert."

Wenn die These zutrifft, dass der Narzissmus die Leitneurose unserer Zeit sei, dann ist die Vulgarität deren erste, quasi "nobelste" Ausdrucksform. Nichts führt die Suche nach Sichtbarkeit und Resonanz zu einem erfolgreicheren Ende, nichts stillt den Hunger nach einigen Minuten Prominenz nachhaltiger.

Mögen auch manche benebelten Boulevardstreuner noch über das zweifelhafte Privileg einer gedruckten Zeitungsspalte für die Verbreitung ihrer Unverschämtheiten verfügen, das Krawallfernsehen und vor allem das Internet haben inzwischen für eine umfassende Demokratisierung des Narzissmus gesorgt: Im Auge der Kamera wird der Nobody zum Jemand, mit rüpelhaften Tweets der schiere Datenhaufen zu einer digitalen "Persönlichkeit".

Der wütende Mob

Wo einst der beschränkte, aber eben auch begrenzte Stammtisch war, fällt heute der – rechte, linke, aber jedenfalls wütende – Mob in aller Öffentlichkeit und breitenwirksam über alles und jeden her. Es gibt kein Entrinnen. Die Beleidigung, die Niedertracht, die Bosheit, sie werden dich – #Arschloch! – finden. Verbale Vernichtungsfeldzüge, abgebrannte Brücken und verödete Diskurslandschaften sind die Regel, nicht mehr die Ausnahme.

Die "Zerstörung der Grundlagen der Gesellschaft" (Sofsky) manifestiert sich vor allem in der Zerstörung der Basis einer sachlichen, gesitteten, an Argumenten und Gegenargumenten reichen Debatte. Sobald für eine kritische Masse an Menschen die Einteilung der Welt in "Trottel, Böse und mich" zum erkenntnisleitenden Prinzip wird, brechen alle Dämme. Von Gemeinsinn oder Bürgerlichkeit kann dann keine Rede mehr sein. Wenn die Vulgarität herrscht, ist kein Staat zu machen. Massenhaft ungezügelte niedere Instinkte führen geradewegs in die Katastrophe.

Homo homini lupus

Wo Narzissten und Neurosen sind, dürfen Psychiater nicht fehlen: Sigmund Freund stellt in seinem "Unbehagen in der Kultur" fest, dass "der Mensch nicht ein sanftes liebebedürftiges Wesen ist, sondern dass er zu seinen Triebbegabungen einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus."

Freuds Unbehagen nährte sich aus dem Umstand, dass Zuneigung Gruppen zusammenzuhalten vermag – solange andere da sind, die bei Bedarf angefallen werden können (sein Text entstand 1930, am Vorabend der Shoa).

Weniger wollen – mehr erkennen

Der alte Menschenfeind und Hundebesitzer Arthur Schopenhauer erklärte ein paar Jahrzehnte zuvor, dass Vulgarität dadurch entstehe, dass "das Wollen im Bewusstsein die Erkenntnis gänzlich überwiegt". Es also quasi nur nötig sei, weniger zu wollen und mehr zu erkennen, um sich aus den "Regungen animalischer Existenz" zu erheben.

Oscar Wilde, seines Zeichens weder Psychiater noch Philosoph, sagte: "Vulgarität ist immer das Benehmen anderer." Diese Erkenntnis wäre ein guter Anfang für etwas mehr Respekt und weniger Vulgarität.

Würde Donald Trump dem zustimmen? @realDonaldTrump: "Sorry losers and haters, but my I.Q. is one of the highest – and you all know it! Please don't feel so stupid or insecure, it's not your fault." (Christoph Prantner, 15.7.2017)