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Tweet-Ablenkung und politische "Deckkonflikte": Kathrin Röggla.

Foto: dpa/F. von Erichsen

Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen", zitierte einst Walter Benjamin aus dem Gottfried-Keller'schen Sinngedicht. Wirklich? So viel Optimismus mutet im Zeitalter von Trump und Twitter doch arg naiv an. Die österreichische Autorin und Dramatikerin Kathrin Röggla erklärte denn auch gleich zu Beginn ihrer Bamberger Poetikvorlesungen Empathy with the devil. Literatur im Zeitalter der postfaktischen Behauptung: "In Wahrheit läuft sie uns permanent davon."

Was segelt seit Ingeborg Bachmanns legendären Auftritten an der Frankfurter Goethe-Universität inzwischen nicht alles unter dem diffusen Begriff "Poetikvorlesung": Meditationen über das eigene Schreiben und die Literatur im Allgemeinen, über das eigene Werk oder das anderer, meist wahlverwandter Autoren, Werkstattberichte über gerade entstehende Texte oder Reflexionen über philosophische oder gar, siehe jüngst Michael Kleeberg, politische Fragen.

Jörg Haider neben Donald Trump

Der 46-jährigen Kathrin Röggla gelingt scheinbar spielend das Kunststück, all diese Aspekte zu vereinen, in eindrucksvoll dichten, ebenso anspielungs- wie bezügereichen, medien- wie gesellschafts- und kunstkritischen Vorträgen. In ihnen steht J. M. Coetzee neben Kurt Vonnegut, der Kognitionswissenschafter Fritz Breithaupt neben dem Marxisten Slavoj Zizek, Jörg Haider neben Donald Trump.

Für die in Salzburg geborene Wahlberlinerin (zuletzt von ihr erschienen: Nachtsendung. Unheimliche Geschichten, S.-Fischer-Verlag 2016) sind wir heute mit einer "Politik des Überrumpelns" konfrontiert, bei der die bloße Behauptung den Diskurs diktiere, während aus dem kritisch räsonierenden Publikum von einst Follower wurden, die sich immer schon "im Wahren" zu befinden glauben.

Krise der Fiktion

Für Falsifizierungen fehle schlichtweg längst die Zeit, aufgrund des "irren Taktes", den die Mediengesellschaft vorgebe. "Wahrheit", so Röggla, "bezieht sich irgendwie auf Fakten, um die es in Zeiten der Follower nicht mehr gehen kann." Weshalb die Autorin dafür plädiert, den Begriff des Postfaktischen besser wieder aufzugeben, suggeriere er doch fälschlich, dass es zumindest irgendwie um Fakten gehe.

Die Folgen dieser Entwicklung für die Literatur seien einigermaßen fatal: Zum einen lauere im Kopf des Autors permanent die Angst, sein Stoff könnte zum Zeitpunkt des Erscheinens bereits wieder veraltet sein, so rasch schreite der Verfall von Themen und Stoffen inzwischen voran, so stark sei das Gefühl, permanent von der Wirklichkeit überholt zu werden, der Realität nichts mehr hinzufügen zu können.

Verdächtige Fiktion

Zum anderen aber sei die "gute alte Fiktion" inzwischen hochgradig verdächtig, seien wir doch regelrecht umstellt von den strategisch eingesetzten, höchst wirkmächtigen Fiktionen der PR-Agenten und Thinktanks aus Politik und Wirtschaft. Eine veritable Krise der Fiktion also.

Kathrin Röggla sucht den Ausweg im Konzept von "Zwischengeschichten", ein Begriff, den sich die Autorin von dem französisch-schweizerischen Regisseur Jean-Luc Godard geborgt hat, der einmal sagte, er filme keine Figuren, sondern die Räume zwischen ihnen.

Zwischengeschichten – oder auch "Maulwurfsgeschichten" im Sinne Kafkas – befänden sich zwischen den Stühlen des Dokumentarischen und Fiktiven, Schriftlichen und Mündlichen, Text und Kontext, so Röggla. Sie könnten uns die dringend benötigte Zeit verschaffen, weil sie das "unselige Identitätsspiel der Politik" unterbrechen, und würden zugleich niemals ganz in ihrer Gegenwart aufgehen.

Ersatzschauplätze

Die Unterscheidung von Dilemma und Konflikt sei grundlegend für dieses literarische Konzept, zumal in einer Zeit, in der kaum noch einer konfliktfähig ist, weil er immer schon vom nächsten Tweet abgelenkt werde, und im öffentlichen Diskurs "Deckkonflikte", Ersatzschauplätze, dominierten, welche von den eigentlichen, dahinterstehenden Dilemmata ablenken sollen. Bestes Beispiel dafür ist für Kathrin Röggla der Rechtskonflikt, der in Gesellschaft wie Kunst (von Ferdinand von Schirachs Terror bis zu den Texten Juli Zehs) neuerdings wieder Karriere macht.

Je mehr die allgemeine Desorientierung um sich greife, desto größer seien die Hoffnungen, die man aufs Rechtssystem mit seiner "vermeintlichen Verbindlichkeit" setzt: "Man kann sich aufs Grundgesetz berufen, wenn es sonst keine Utopie mehr gibt." Dass man in den USA darauf setzt, das Problem Trump lasse sich, wenn schon nicht gesellschaftlich, so zumindest juristisch lösen, sei symptomatisch, so die Autorin.

Dennoch optimistisch

Was Kathrin Röggla von ihren ersten Recherchegesprächen für ihr aktuelles Werk mit Strafverteidigern berichtete, war freilich ernüchternd. Von einer Ausblendung basaler Dilemmata kann demnach keine Rede sein, im Gegenteil; in Seminaren lernen Anwälte, wie sie Zeugen in Dilemmata gezielt hineintreiben können, um ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören.

Dennoch bleibt die Autorin optimistisch: Am Ende lasse sich all die Komplexität, mit der die Literatur heute konfrontiert sei, auf "einleuchtende" Formen reduzieren, die gänzlich neue Aus- und Eingänge anbieten, immer nach dem Motto: "Folgen wir den Maulwürfen!" Dass dies womöglich Pfeifen im Walde ist, zeigte sich an ihrer Irritation, als sie erfuhr, dass ihre Vorlesung dank eines "Uni-Twitterbeauftragten" zeitgleich auch via Trumps Lieblingsmedium verfolgbar ist. Hashtag "Poetikprofessur"! (Oliver Pfohlmann, 16.7.2017)