Wien – Unter den dysfunktionalen Zweierbeziehungen im Showgeschäft war jene von Ike und Tina Turner wohl die berühmt-berüchtigtste. In dieses fatale, von männlicher Gewalt geprägte Muster schienen sich in den 90er-Jahren auch Whitney Houston und Bobby Brown einzufügen. Eine mit Handkamera im Hotelzimmer gefilmte Szene, in der die vermeintliche Pop-Sauberfrau und der selbsternannte Bad Boy des R&B im Bademantel als Ike & Tina herumalbern, gehört zu den komischsten und unheimlichsten Momenten des Dokumentarfilms "Whitney: Can I Be Me".

"Can I Be Me" leuchtet die zahlreichen Widersprüche im Lebens des 2012 an den Folgen einer Drogenüberdosis verstorbenen Popstars Whitney Houston aus.
Foto: Filmladen

Es sind solche unvermuteten Widersprüche, an denen der für seine selbstreflexiven Dokumentarfilme bekannte Regisseur Nick Broomfield ("Soldier Girls", "Kurt & Courtney") mit Vorliebe ansetzt. Statt auf vorschnelle Rollenzuschreibungen zu setzen, bricht er diese immer wieder auf, stellt Fragen, ohne sie notwendigerweise zu beantworten.

Touraufnamen von Rudi Dolezal

Die in das vielstimmige Porträt eingeflochtenen Bilder vom Rande des Abgrunds stammen zu einem beträchtlichen Teil vom österreichischen Filmemacher Rudi Dolezal. 1999 filmte er Houstons desaströse Europa-Tournee sowohl auf als auch hinter der Bühne mit und wurde nun für sein bisher unveröffentlichtes Material mit einem Co-Credit als Regisseur gewürdigt.

An den Tränen, die eine sichtlich ausgelaugte Houston beim Abgang von der Bühne der Wiener Stadthalle vergießt, interessiert die Doku nicht der voyeuristische Schauwert, sondern die lange, verschlungene Geschichte dahinter. Eine Geschichte, die vom Erfinder des verkaufsträchtigen Pop-Phänomens Whitney Houston ganz bewusst getilgt wurde.

Trailerloop

Als Plattenproduzent Clive Davis, der Karrieren von Janis Joplin bis Alicia Keys auf die Sprünge geholfen hat, die junge Sängerin unter Vertrag nahm, sah er in ihr eine formbare Masse ohne Vergangenheit, perfekt geeignet, um daraus eine Pop-Ikone für ein weißes Publikum zu modellieren. Whitney, seit jeher um ihre Wirkung auf andere besorgt, habe mitgespielt, bemerkt ein Weggefährte im Interview trocken. Eine Einschätzung, die, wie der Film eindrucksvoll zeigt, richtig und doch nur die halbe Wahrheit ist.

Stimmliches Ausnahmetalent

Es genügt der Ausschnitt einer historischen Aufnahme, auf der Houston als zwölfjährige Solistin im Kirchenchor brilliert, um einen zu überzeugen, dass man es mit einem stimmlichen Ausnahmetalent zu tun hat. Es genügt ein Interviewschnipsel mit Houstons Mutter, der Gospelsängerin Cissy Houston, um keinen Zweifel offenzulassen, dass sie ihre Stimmtechnik der Tochter mit dem Ehrgeiz einer Eislaufmutter eingetrichtert hat.

Nicht nur das komplexe, auf einen allwissenden Offkommentar verzichtende Geflecht aus Archiv- und Interviewaufnahmen, sondern auch die problematische Rolle der Eltern erinnert an Asif Kapadias Oscar-prämierte Doku über Amy Winehouse. Kaum weniger ambivalent die Rolle der Religion, ebenfalls einerseits Zufluchtsort, andererseits Bollwerk des schlechten Gewissens und der Unterdrückung, nicht zuletzt der Sexualität. Daran, dass Houston bisexuell war und zu Robyn Crawford, ihrer besten Freundin seit der Schulzeit und Schutzengel bis zum Zerwürfnis mit Houstons eifersüchtigem Ehemann, eine lesbische Beziehung unterhielt, lässt der Film wenig Zweifel aufkommen.

Und die Drogen, die so gar nicht zum Image der ewig lächelnden Sauberfrau passten? Illegale Substanzen gehörten, so erzählen die Brüder Houstons, in East Orange in New Jersey, wo die Mittelstandsfamilie lebte, für Heranwachsende schlichtweg zum Alltag. Bruder Gary gesteht freimütig ein, dass er seine erste Heroinerfahrung als Zehnjähriger hatte.

Dogwoof

Bis Houston ihre Vergangenheit einholte beziehungsweise erste Sprünge in der fürs Publikum glatt polierten Fassade sichtbar wurden, sollte es zunächst dauern. Als Schlüsselmoment präsentiert der Film die Verleihung der Soul Train Awards im Jahr 1989, bei der Houston von einem schwarzen Publikum gnadenlos ausgebuht wurde. Vier Nummer-eins-Hits in Folge, von "I Wanna Dance with Somebody (Who Loves Me)" bis zu "Where Do Broken Hearts Go", konnten nicht länger darüber hinwegtäuschen, dass sich Houston mit ihrer Musik von der schwarzen Community denkbar weit entfernt hatte.

Vorwurf der Halbherzigkeit

Der Vorwurf des Ausverkaufs traf die von Selbstzweifeln geplagte Sängerin stärker, als sie es sich anmerken ließ. Ja, so der Tenor in der Doku, sie habe sich nie ganz davon erholt. Houstons immer öfter geäußerte Frage "Can I be me?", die dem Film seinen Titel gibt, wird zum Mantra und von ihren Begleitern sogar als Soundfile gesampelt. Ihre eigenen Bewältigungsstrategien fallen unterschiedlich aus. Einerseits produziert sie ihr nächstes Album selbst, macht gemeinsame Sache mit Größen der afroamerikanischen Musikszene wie L. A. Reid, Luther Vandross und Stevie Wonder – und erntet dennoch den Vorwurf der Halbherzigkeit.

Andererseits macht sie von nun an gemeinsame Sache mit Bobby Brown, der unter anderem mit seinem seinem Alkoholproblem Houstons Drogenkonsum einer Lesart nach erst zur Eskalation bringt, sie aber gleichzeitig – auch dafür bringt der Film mehrfach Belege – dort akzeptiert, wo andere es nicht tun.

Eskalierender Drogenkonsum

Eindeutige Lichtgestalten setzt die Doku, die ihre Mosaiksteine mit Vorliebe in Grautönen hält, nur wenige in Szene. Während der Film "Bodyguard" mit Kevin Costner und der auf maximales Pathos getrimmten Ballade "I Will Always Love You" Houstons Ruhm 1992 zum Explodieren bringt, hat David Roberts, der Beschützer im echten Leben, weder Sex mit seiner Arbeitgeberin, noch muss er Schießereien überstehen. Stattdessen scheitert der nüchterne einstige Scotland-Yard-Mitarbeiter an einem Umfeld, das den zunehmend eskalierenden Drogenkonsum seiner Arbeitgeberin nicht nur toleriert, sondern erst ermöglicht: Als er eine akribische – im Film aus juristischen Gründen großteils geschwärzte – Liste mit den Drogenbeschaffern ans Management schickt, wird er wenig später informiert, dass seine Dienste nicht mehr gebraucht werden.

"Whitney: Can I Be Me", ohne offizielle Unterstützung des Houston-Clans entstanden, ist weder Hagiografie noch Musikfilm oder gar lüsternes Sensationsstück. Stattdessen liefert der Film Schlaglichter auf Abhängigkeiten und Mechanismen. Houston selbst wird dabei nicht exkulpiert, ihr offensichtlicher Selbstzerstörungstrieb nicht restlos erklärt. Man muss die Musik der im Alter von 48 Jahren verstorbenen Sängerin nicht mögen, kann sie sogar verabscheuen und dennoch Gewinn aus diesem komplexen Porträt einer ebensolchen Persönlichkeit ziehen. (Karl Gedlicka, 13.7.2017)