Karlovy Vary – "Man tötet eine Million Menschen nicht ohne Grund", belehrt ein polnischer Beamter die Ornithologin Anna. Die Wissenschafterin verliert die Fassung. Sie schreit den Mann vom Ausländeramt an: "Wegen weißen Arschlöchern wie Ihnen mussten sie sterben, nur dass die an der Sorbonne studiert haben."

Im Film "Birds Are Singing in Kigali" des polnischen Regie-Ehepaars Joanna Kos-Krauze und Krzysztof Krauze beeindrucken die Darstellerinnen Jowita Budnik (re.) und Eliane Umuhire nachhaltig.
Foto: Film Festival Karlovy Vary

Anna hat sich bei dem Beamten für das Bleiberecht einer Freundin aus Ruanda eingesetzt, die mit ihrer Hilfe 1994 knapp dem Völkermord an der Tutsi-Minderheit entkommen konnte. Oder vielleicht ist Freundin das falsche Wort. Die beiden Frauen sind durch das gemeinsam erlebte Trauma eher in einer Art Hassliebe aneinandergekettet: Claudine hat ihre gesamte Familie im Genozid verloren, Anna, die mit deren Vater vor Ort forschte, wurde bei ihrer Flucht vergewaltigt. Bei beiden scheint der Anblick der anderen die Vergangenheit immer wieder schmerzhaft hervorzuzerren.

Die beiden Hauptdarstellerinnen des polnischen Films Ptaki spiewaja w Kigali (Birds Are Singing in Kigali), Jowita Budnik und Eliane Umuhire, haben am Samstag beim 52. Internationalen Film Festival von Karlovy Vary beide verdient den Preis für die beste Hauptdarstellerin verliehen bekommen. Der Film wäre auch eine gute Wahl für den Hauptpreis gewesen, gelingt es dem polnischen Regiepaar Joanna Kos-Krauze und Krzysztof Krauze doch eine überzeugende filmische Form zu finden, die das Trauma der beiden Frauen erfahrbar macht.

Ewig pochendes Herz

Der Zusammenhalt ihrer Realität scheint in Ptaki spiewaja w Kigali zerbrochen, in Wahrnehmungsfragmente aufgelöst. Immer wieder geschieht die eigentliche Handlung im Off, während die Kamera auf Nebensächliches fokussiert, so als sei der Film mit seinen Gedanken ganz woanders. Wobei die Bilder starke Symbolik nicht scheuen: In einer Einstellung schaut Claudine wie erstarrt auf einen frisch zerlegten Fisch, dessen herausgerissenes Herz völlig abgetrennt vom Körper noch ewig weiter zu pochen scheint.

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Auch wenn Ptaki spiewaja w Kigali in den 1990er-Jahren spielt, wirkte er gerade in Karlovy Vary sehr zeitgemäß: Drei Tage vor der Eröffnung des wichtigsten Filmfestivals Osteuropas hatte das tschechische Parlament mit 113 Ja- zu neun Neinstimmen beschlossen, das Ausländerrecht zu verschärfen – nicht nur für die heimische Anwaltskammer stehen die neuen Regelungen im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Prinzipien und den Menschenrechten.

Dass das wichtigste Festival Osteuropas in mehr als einem Dutzend Filmen in allen Sektionen Asyl, Flucht und Migration thematisierte, kann man als Botschaft an die Politik verstehen und als Ausdruck der Bedeutung des Themas für die Gegenwart auch der Gesellschaften Osteuropas. Mehrere Filme in Karlovy Vary zeigten dabei, dass das Thema nicht als politisch korrektes Rührstück aufgearbeitet werden muss.

Der mit dem Regiepreis ausgezeichnete Tscheche Peter Bebjak etwa erzählt in Ciara (The Line) von Zigaretten- und Menschenschmugglern an der slowakisch-ukrainischen Grenze in Form eines ebenso lebendigen wie humorvollen Gangsterfilms – an dem Quentin Tarantino sicher seine Freude hätte.

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Die Zigaretten, die die Schmuggler bis Österreich durchschleusen, bezeichnen sie als "Krebs", die Menschen als "Affen". Dennoch sind die illegalen Einwanderer und Asylsuchenden hier am Ende auch einfach nur mehr oder minder liebenswerte Schlitzohren wie die Protagonisten selbst. Alle versuchen einfach nur mit allen legalen und illegalen Mitteln, für sich und ihre Familien das Überleben zu sichern.

Auf Kreuzritters Spuren

Gewonnen hat in Karlovy Vary ein Film, der nicht weiter von solch quirligem Genrekino entfernt sein könnte. Krizácek (Little Crusader) des Tschechen Václav Kadrnka erzählt die Geschichte einer umgekehrten Reisebewegung: von Westeuropa in Richtung Naher Osten.

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Im frühen 13. Jahrhundert macht sich ein blonder Knabe heimlich auf den Weg Richtung Jerusalem, offenbar angelockt vom Kinderkreuzzug. Als sein Vater das Fehlen seines Kindes bemerkt, reitet er ihm nach. Doch sowohl Vater als auch Sohn kommen vom Weg ab. Kadrnka geht es offensichtlich weniger um den – von Historikern bezweifelten – Kreuzzug, als um die metaphorischen Möglichkeiten seiner Geschichte. Der Minimalismus seines "Slow Cinema" im altmodischen Normalbild-Format wirkt allerdings eher gewollt als gekonnt. Der sperrigste Film des diesjährigen Hauptwettbewerbs war auch der langweiligste. (Sven von Reden, 10.7.2017)