Die Bildungsreform 2017 bringt den Schulen mehr Freiheiten. Es wird dauern, bis alle Neuerungen im Schulalltag ankommen.

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Genuine Aufgaben von Bildungspolitik sind es, jedem Menschen den Zugang zur Bildung offenzuhalten, Strukturen zur Demokratisierung der Schule zu fördern und sicherzustellen, dass Lehrinhalte an keinem Punkt den Werten einer rechtsstaatlichen Demokratie widersprechen. Diesen Aufgaben ist die Politik in den 1970er-Jahren nachgekommen. Die damaligen Entscheidungen entfesselten in den 1980er-Jahren ein umfangreiches kreatives Potenzial, was Lehrinhalte und Lehrmethoden betrifft.

Die Beckmessereien der 1990er-Jahre

Am Beginn der 1990er-Jahre aber begann Bildungspolitik ihre Kompetenzen nachhaltig zu überschreiten. Pädagogische Ideen der Basis wurden über Jahre juristisch aufbereitet, bis sie infolge der veränderten pädagogischen Bedürfnisse ihren Wert verloren und dann zu Vorgaben für alle Pädagoginnen und Pädagogen wurden. Im Zuge des sozialen Lernens hatten Lehrerinnen und Lehrer der 1980er-Jahre beispielsweise begonnen, ihren Schülerinnen und Schülern das Zustandekommen der Noten zu erklären. Daraus wurde die bürokratische Vorgabe, Schülerinnen und Schülern bereits am Beginn des Schuljahrs penibel aufzulisten, was in welcher Form von ihnen erwartet wird. Damit aber lenkte man die Aufmerksamkeit von den Lerninhalten weg hin zur Leistungsbewertung.

Als die Anzahl negativer Noten nicht sank, perfektionierte man das System mit Frühwarnungen, welche nur die Leistungsbereitschaft sinken ließen. Zu Zeiten des ultimativen Konsumrauschs aber hätten Schülerinnen und Schüler vor allem das individuelle, bedürfnisorientierte "Konsumieren" von Lerninhalten, das offene Lernen gebraucht. Dazu hätten Unterrichtszeiten und Schulräume entsprechend angepasst werden müssen. Aber dafür fehlten sowohl politischer Wille wie Geld.

Die Erziehungsverweigerung der Nullerjahre

Der Internetkonsum der Jugend erzeugte um die Jahrtausendwende das Bedürfnis, in diesem Informationsdschungel Orientierung zu erhalten, und die Generation der aufkommenden Jugendarbeitslosigkeit wollte wissen, was von ihr erwartet wird. Nun aber verordnete die Politik der Schule Infotainment.

Lehrpläne wurden zu einem Baukastensystem mit der Freiheit, Inhalte den subjektiven Interessen von Lehrerinnen, Lehrern, Schülerinnen und Schülern anzupassen. Zu dieser Zeit konnte man als Musik- oder Sportlehrerin den jungen Menschen bei Schulveranstaltungen noch am besten vermitteln: Ohne dich geht es nicht. Die Arbeitgeber beklagten den Verfall verbindlichen Wissens, Könnens und Benehmens. Wenn jedoch Lehrerinnen und Lehrer öffentlich nach diesbezüglichen Standards riefen, wurden sie der "Rohrstaberlpädagogik" geziehen. Die Schule wurde zu einem Ghetto, in welches das herrschende Gesellschafts- und Wirtschaftssystem die Jugend gewissermaßen unter einem Bildungsvorwand wegzusperren suchte.

Die Geistlosigkeit der 2010er-Jahre

Wohl ist ein Teil der Jugend mittlerweile sozusagen verloren und Adressat mühsamster Sozialarbeit. Doch hat sie jene Richtlinien, welche die Schule bislang nicht bieten konnte, über die Social Media selber entwickelt. In vorbildlicher Weise ist sie in der Lage, das Wissen, die Motivationen, Fähigkeiten und Möglichkeiten der Einzelnen konstruktiv zu bündeln, um lohnende Ziele zu verfolgen.

Das Schlimmste, was dieser Generation passieren konnte, sind Bildungsstandards und eine Zentralmatura, deren Inhalte von jenem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem vorgegeben werden, welches das Vertrauen der Jugend verspielt hat: Inhalte, in denen das Wissen um die Gewinnmöglichkeiten durch Börsenspekulation wichtiger ist als die Kenntnis von Literatur oder Geschichte. Schülerfehlstunden werden in wenigen Jahren Ausmaße angenommen haben, denen mit noch so hohen Strafen nicht mehr beizukommen ist.

Tragisch an der gegenwärtigen Situation ist, dass sich die Qualitäten und Sehnsüchte der gegenwärtigen Jugend vom "Islamischen Staat" und von rechts- oder linksradikalen Gruppierungen ebenso gut nutzen lassen wie von Visionären wie Heini Staudinger oder Papst Franziskus. Schule müsste sich heute mit Alternativkonzepten für eine zukunftstaugliche Gesellschaftsordnung beschäftigen. Solche wachsen nur auf festem weltanschaulichem Boden in einer diesbezüglich pluralistischen Gesellschaft. Die Unzufriedenheit mit der weltanschaulich neutralen staatlichen Schule und der große Zustrom zu konfessionellen und alternativen Privatschulen weisen auf diese Tatsache hin. Strukturreformen helfen da wenig! (Elisabeth Ertl, 7.7.2017)