Foto: Lara Hagen

Wäre ich hier nicht aufgewachsen, ich wäre mir nicht sicher, ob ich mich überhaupt noch in Österreich befinde. Bevor ich den Zebrastreifen zum Rheincenter – einem Mini-Einkaufscenter – überqueren kann, zischen vor mir einige Autos vorbei. Auf vielen ist die rote Fahne mit dem weißen Kreuz zu erkennen. Es ist keine besonders schöne Ecke von Lustenau, aber zur Schweizer Grenze sind es nur wenige Minuten, und es gibt genügend Parkmöglichkeiten direkt vor dem Eingang. Dort zeigt sich ein ähnliches Bild wie auf der Straße: St. Gallen, Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, und auch ein Auto aus dem Kanton Zürich steht hier, dazwischen sind ein paar Vorarlberger Kennzeichen dabei. Von hier sind es nur noch wenige Schritte bis zu meinem Ziel, für das auch die Schweizer die Anreise auf sich genommen haben: dem Eurospar.

Grafik: Standard

Die Lustenauer – man kennt uns für Senf, einen sehr besonderen Dialekt und den Blauen Platz, der das Ortszentrum darstellt und wirklich blau ist – haben sich an die zahlreichen Schweizer Gäste beim Einkaufen, Einkehren und Tanken gewöhnt. Beim Faschingsball der Gemeinde widmete man den Schweizern sogar eine eigene Nummer – sie fallen darin mit ihren Einkaufskörben über die Gemeinde her. Kein Wunder: Betrachtet man die Wechselkurse, ist es seit 2008 für Schweizer um 50 Prozent billiger geworden, in Österreich einzukaufen. Viele der rund 22.000 Einwohner sind genervt, weil lange Staus und viel Verkehr mittlerweile zur Normalität geworden sind. Denn zu den Einkaufstouristen aus der Schweiz kommt der nationale und internationale Schwerverkehr hinzu, der zur Autobahnauffahrt der Rheintalautobahn in Dornbirn will – beziehungsweise retour. Täglich passieren 1.350 Lkws (letztes Quartal 2016) den Grenzübergang Lustenau – Au. Bei den Pkws sind es 13.100 pro Tag. Dass aktuell der Bau einer Ikea-Filiale sehr wahrscheinlich ist, befeuert die Verkehrsproblematik natürlich zusätzlich.

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Für die Gemeinde gibt es derzeit also kaum ein wichtigeres Thema als die Verkehrslast: Einerseits will Lustenau – zumindest laut Bürgermeister Kurt Fischer (ÖVP) – nämlich weiterhin für Konsumenten aus der Schweiz attraktiv bleiben und sogar noch mehr von ihnen in die Gemeinde locken. Und auf der anderen Seite möchte Fischer Lustenau vom Verkehr entlasten und das Zentrum für Fahrradfahrer und Fußgänger attraktiver machen. Auf den ersten Blick ein ziemliches Dilemma.

Des Bürgermeisters Zukunftspläne

Hört man den Bürgermeister über Verkehr und Mobilität sprechen, könnte man beinahe denken, nicht ein Schwarzer, sondern ein Grüner sitzt hier im Gemeindeamt. Der sportliche Mittfünfziger, der in seiner Freizeit auch gerne und oft twittert und mit seiner Band musiziert, initiierte immerhin auch das überparteiliche Unterstützungskomitee für Alexander Van der Bellen, engagiert sich privat für die in Lustenau wohnenden Flüchtlinge und interessiert sich sehr für umweltverträgliche Mobilität. "Ich hoffe, dass ich nicht als Don Quijote oder als tragische Figur in die Geschichtsbücher eingehe", sagt der Ortsvorsteher, der 2010 mit seinem Wahlsieg die 50-jährige FPÖ-Führung in der Gemeinde beendete. Zu seinen Terminen fahre er nur noch mit dem E-Bike beziehungsweise im Winter mit dem Elektroauto, am Wochenende joggt er durch das Lustenauer Ried – ein Naherholungsgebiet – und ärgert sich aus der Ferne über die langen Staus.

Für Veranstaltungen am Blauen Platz wird das Zentrum für Autofahrer gesperrt – wie etwa beim Konzert von Seiler & Speer 2016 (rechts). In der Mitte: Bürgermeister Kurt Fischer (ÖVP) bei der Fahrradparade.
Fotos: Marcel Hagen, Dietmar Mathis

Bereits in den ersten Tagen seiner Amtszeit beteiligte Fischer sich an der seit den 80ern geführten Diskussion über die Bodensee-Schnellstraße (S18), die eine Verbindung zwischen der Schweiz und Vorarlberg herstellen soll. Aktuell sind von 20 eingereichten Varianten noch zwei im Gespräch, auch jene, die vom Lustenauer ins Spiel gebracht wurde – die sogenannte Z-Variante: "Weil das Gebiet, das zwischen den beiden Autobahnen liegt, sehr sensibel ist, ist eine Untertunnelung die beste, weil umweltfreundlichste Lösung." Die Schnellstraße soll bei Dornbirn von der A14 abzweigen und in der Schweiz bei St. Margrethen in die A1/E60 und A13/E43 münden. Bis die 900 Millionen Euro teure Schnellstraße jedoch endgültig umgesetzt wird, könnte es noch länger dauern. "Wenn du mich als junge Lustenauerin fragst, ob dort in zehn Jahren ein Auto fährt, dann kann ich nur sagen, dass ich schon froh bin, wenn man in zehn Jahren mit dem Bau begonnen hat", sagt Fischer.

Die Rheinbrücke verbindet Lustenau mit der schweizerischen Gemeinde Au – täglich passieren 1.350 Lkws (letztes Quartal 2016) den Grenzübergang.
Foto: Gemeinde Lustenau

Solange die beiden Autobahnen nicht verbunden werden, müssen in Lustenau kleinere Eingriffe den Verkehr eindämmen oder, wie Fischer es ausdrückt, "den Schmerz für Autofahrer erhöhen": Eine Begegnungszone um den Blauen Platz und mehrere Fahrradstraßen, auf denen sich die Autofahrer an die Fahrradfahrer anpassen müssen, sollen diesen Schmerz verursachen. Eine Begrünung des Zentrums soll Leute zum Bummeln und Einkehren einladen, Fahrradbrücken über den Rhein Schweizer Einkäufer dazu verlocken, mit ihrem "Velo" zu kommen, zählt der Bürgermeister die Maßnahmen auf. Geplante Investitionen in den öffentlichen Raum wie diese beziffert Fischer mit etwa drei Millionen Euro. "Wir wollen das ganz gezielt, unabhängig davon, ob ein Ikea kommt."

Der Faktor Ikea

Dass der schwedische Möbelriese kommt, scheint allerdings ziemlich sicher – zumindest nach Vorarlberg. Und Fischers Logik dabei: "Wieso sollten wir ihn nach Dornbirn ausweichen lassen, wenn wir den Durchzugsverkehr trotzdem haben, uns aber die positiven Effekte entgehen?" Großflächigen Handel gebe es in Lustenau nur sehr wenig, und Möbel könne man im Ort keine kaufen. Die Kaufkraftabflüsse aus Lustenau seien dramatisch. "Das legitimiert nicht unbedingt den Ikea, weil der eine ganz andere Strahlkraft hat. Aber trotzdem: Aus Vorarlberg gehen aktuell zwölf Millionen Euro in den Ikea im schweizerischen St. Gallen."

Das Industriegebiet Millennium Park bietet 80.000 Quadratmeter Betriebsfläche. In unmittelbarer Nähe könnte bald ein Ikea stehen.
Foto: Marcel Hagen

Kritik kommt vor allem von den Grünen. "In der Zielsetzung sind wir uns mit Kurt oft und in vielen Bereichen einig – in Tempo, Nachdruck und Umsetzung oft nicht", sagt Christine Bösch-Vetter, Gemeinderätin der Grünen in Lustenau, zum allgemeinen Verhältnis mit dem Bürgermeister. Vor allem beim Verkehr sei der Spagat zwischen "Wissen, was gut wäre", und der Umsetzung enorm. Ikea ziehe noch mehr Autos an, was das für die Verkehrssituation heißt – nicht nur in Zufahrten, sondern auch in den Nebenstraßen –, werde nicht ernsthaft betrachtet, sagt die Gemeinderätin. Außerdem verdränge Ikea Familienunternehmen, dabei könne man mit einer aktiveren Betriebsansiedlungspolitik mehr Kommunalsteuern und Arbeitsplätze bei weniger Verkehr erreichen. "Eine Politik, die sich am Frankenkurs orientiert, ist aus unserer Sicht nicht sehr nachhaltig", sagt Bösch-Vetter.

Schlangestehen im Supermarkt

Eine endgültige Entscheidung für oder gegen die Ansiedlung von Ikea steht noch aus, zuvor gibt es weitere Verhandlungen – auch mit dem Land Vorarlberg. Fischer will den Schweden aber durchaus Bedingungen diktieren – gerade was den Verkehr, die Parkplätze, aber auch das Design der Filiale anbelangt: "Einen blauen Kasten wollen wir nicht." Als Grundstückseigentümer sieht er sich in einer starken Verhandlungsposition. Beim McDonald's, der 2016 in der Nähe der Ikea-Baufläche eröffnete, gelang das. Es ist die erste klimaneutrale Filiale Österreichs, die Fassade wurde von einem renommierten Architektenbüro gestaltet.

Zurück in den Eurospar: Drinnen reiht sich Einkaufswagen an Einkaufswagen, dazwischen laufen Kinder herum, Einkaufende klammern sich an ihre Einkaufszettel, Mitarbeiter sind mit Aufräumen, Nachschlichten und Einsortieren beschäftigt. An Freitagen und Samstagen sei besonders viel los, da kämen viele aus der Schweiz, erzählt eine Mitarbeiterin beim Kühlregal, Zeit für weitere Fragen habe sie sichtlich nicht. Seit die Schweizer Nationalbank Anfang 2015 den Mindestwechselkurs von 1,20 Franken pro Euro aufgehoben hat, ist das Einkaufen hier im Ausland für die Nachbarn noch billiger geworden. In der langen Schlange vor der Kassa kann man sich mit vielen Eidgenossen darüber unterhalten, wie oft sie nach Lustenau pendeln. Martin Thöny ist mit der ganzen Familie da – Ehefrau Andrea und die Kinder, beide im Kindergartenalter, die gerne noch mehr Schoki in den Einkaufswagen laden würden.

"Wir kommen einmal pro Woche für einen größeren Einkauf nach Lustenau", sagt der Familienvater. Die Thönys brauchen dafür knapp 40 Minuten Fahrtzeit. Zeit, die sich rechne. "Wie viel wir einsparen, kann ich nicht genau sagen, aber es rentiert sich jedenfalls." Für den Preis der großen 300-Gramm-Milka-Tafel, die die Tochter gerade in der Hand hält, bekämen sie in der Schweiz eine 100-Gramm-Tafel, nennt seine Frau ein Beispiel. Bei Fleisch und Käse sei der Unterschied am größten.

Steuerfreies Leben

Liegt der Einkauf über 75 Euro, können Schweizer die Mehrwertsteuer, die sie an österreichischen Kassen bezahlen, zurückfordern – auch die Thönys tun das heute. In einzelnen Geschäften werden die entsprechenden Formulare direkt an die Kunden ausgehändigt, beim Zollamt muss entweder das Formular oder die Rechnung abgestempelt werden. Beim nächsten Einkauf in Österreich gibt es dann das Geld zurück. Wo das nicht möglich ist, können die Schweizer Kunden an einer "Tax Free"-Stelle das entsprechende Formular ausfüllen, die Steuer erhält man auf dem Postweg retour. Betreiber sind Rückvergütungsorganisationen, für die Dienste werden Gebühren eingehoben. 2015 haben Schweizer Einkaufstouristen rund eine Million Euro Mehrwertsteuer an den Vorarlberger Grenzen rückvergütet – ein Viertel mehr als im Jahr davor.

Schlange stehen beim Wochenendeinkauf – der Eurospar zieht in Lustenau besonders viele Schweizer an. Er ist grenznah und bietet viele Parkmöglichkeiten.
Foto: Lara Hagen

Die Mehrwertsteuer entfällt in der Schweiz bei einem Einkauf unter 300 Franken. Nur darüber wird die Schweizer Mehrwertsteuer von acht Prozent beziehungsweise 2,5 Prozent für Nahrungsmittel fällig. Für Fleisch und Fleischzubereitungen, Butter und Rahm, Öle und Fette, Alkohol sowie Tabakprodukte gelten allerdings strikte Mengenbeschränkungen. "Das alles ist für die Schweizer Grenzbewohner eine schöne Sache, sie leben zu einem großen Teil steuerfrei", sagt ein Zollbeamter, der ebenfalls Schlange steht und sich seine Mittagsjause holt. Das mit dem Müll komme ja auch noch dazu, sagt er und nimmt schon einen Bissen seiner Wurstsemmel. Was er damit meint: Viele Schweizer bringen auch den Müll (vor allem Papier) mit über die Grenze und entsorgen ihn in Lustenau. So kann jene Gebühr vermieden werden, die in der Schweiz für die speziellen Müllsäcke bezahlt werden muss.

Der Rückgang im Jahr 2016 ist auf die Brückensperre im damaligen August zurückzuführen. Für 2017 liegt eine Hochrechnung vor.

Zahlt sich der Einkaufsbesuch der Nachbarn auch für die Lustenauer aus? Die in der Gemeinde vertretenen Supermärkte – Spar, Lidl, Hofer und Sutterlüty – wollen allesamt keine Umsatzzahlen preisgeben. Wie viele Kunden aus der Schweiz kommen, wird ebenfalls in keinem der Geschäfte erfasst. Einzig bei Sutterlüty – die knallpinken Lettern der Filiale leuchten direkt am Blauen Platz – gibt es eine klare Antwort: In den letzten drei Jahren spüre man keine positive Veränderung aufgrund von vermehrten Umsätzen aus der Schweiz. Eine Erklärung dafür könnte die geringere Anzahl an Parkplätzen direkt im Zentrum sein.

Auch bei den anderen Geschäften und Gasthäusern im Ortszentrum sorgen die Schweizer nicht für das große Umsatzplus, erzählen Mitarbeiter. Dass sich die Gäste also, wie von Fischer erhofft, nach dem Einkauf auch ins Zentrum begeben, ist aktuell noch nicht der Fall. Im Umfeld des Rheincenters ist die Lage etwas anders: Ein Käse- und ein Elektrogeschäft haben neu eröffnet. Letzteres ist durchaus eine kleine Sensation, bedenkt man die Konkurrenz durch Media Markt im nahe gelegenen Dornbirner Einkaufszentrum, dem Messepark, der ebenfalls als Verkehrsmagnet wirkt und einiges an Kaufkraft aus Lustenau abzieht. Für das gesamte Vorarlberg gibt es bezüglich der Kaufkraftzuflüsse aber sehr deutliche Zahlen: Der Trendvergleich 2009/2015 zeigt einen Anstieg von 59 Prozent, vor allem durch den hohen Frankenkurs, heißt es im Landesbericht der Wirtschaftskammer Vorarlberg.

Viele Bewohner reagieren auf die Frage, was man von den Schweizern, die nach Lustenau "ga botta" (Lustenauerisch für "einkaufen") kommen, aber auch mit einem Achselzucken, weil sie sich noch gut an Zeiten erinnern, in denen es umgekehrt war. Meine Oma Roswitha kletterte als junge Frau, Anfang der Fünfziger, mit ihren in der Schweiz erstandenen Nylonstrümpfen abenteuerlich durch ein Rohr, das an einer seichten Stelle des Rheins die Schweiz mit Österreich verbindet. Nur wenige Jahre zuvor diente die Stelle während des Zweiten Weltkriegs als Fluchtmöglichkeit in die neutrale Schweiz.

Aber auch Jahrzehnte später fuhren die Lustenauer noch in den Migros (Schweizer Supermarktkette) und kauften Pastetli, Schoki oder Kaffee ein. Die Freigrenzen wurden dabei nicht immer eingehalten, aber ein richtiger Lustenauer wusste, wie man "schmugglat" – viele alte Gedichte und Lieder zeugen von diesem Volkssport.

Die Zusammenarbeit mit den Gemeinden auf der Schweizer Seite ist eng – auch das hat historische Gründe: 20 Prozent der Fläche von Lustenau sind im Besitz der schweizerischen Gemeinden Widnau, Diepoldsau und Au. Ein Überbleibsel aus jener Zeit, als Lustenau mit diesen Orten den Reichshof bildete – bis 1593. Erst 1830 kam Lustenau endgültig zu Österreich. Und so ist das Verhältnis der beiden Länder in dieser Gemeinde ein besonderes – ob an der Kassa, am Grenzübergang oder bei der Müllsammelstelle.

"Ein armer Schmuggler bin ich zwar, verdien mein Geld stets in Gefahr. Doch wenn die Grenzwach am Ufer ruht, dann geht das Schmuggeln doppelt gut."
Wolfgang Verocai

Die ärgerlichen Staus könnten nicht nur durch schmerzhafte Maßnahmen und eine Autobahnverbindung weniger werden, sondern auch durch politische Entscheidungen in der Schweiz – denn dort schlägt man mittlerweile Alarm: Schätzungen der Credit Suisse zufolge entgehen dem Schweizer Handel mittlerweile zehn Milliarden Franken pro Jahr. Diskutiert wird nun die Senkung des Freibetrags. Gegenargument: Dann müssten viel mehr Beamte an den Grenzübergängen kontrollieren, und auch das geht natürlich ins Geld. Fischer wundern die Überlegungen jedenfalls nicht. Vor kurzem war er wieder mit dem E-Bike unterwegs – in der Schweiz. Freitagnachmittag sei es gewesen, und in der Fußgängerzone "absolut tote Hose". (Lara Hagen, 13.7.2017)