Joe Hill: "Fireman"
Broschiert, 960 Seiten, € 18,50, Heyne 2017 (Original: "The Fireman", 2016)
Ja, ja, lacht nur. Schaut auf die Seitenzahl oben und lacht. Das war natürlich keine absichtliche Ausnahme von der Rundschau-Regel, nichts mehr zu rezensieren, was 800 Seiten hat oder mehr. Ich bin schlicht nicht auf die Idee gekommen, dass bei einem Horror-Roman ähnliche Gefahr bestehen könnte wie bei einem Tolkien-Plagiat oder einer Neo-Weltraumoper, und habe das Buch blind bestellt. Was rückblickend im Fall von Joe Hill natürlich extra nachlässig war: Immerhin ist Papa Stephen King mit seinen Volumina schon lange der Rundschau entwachsen, und der Apfel fällt offensichtlich nicht weit vom langen, langen Stamm.
Auf der positiven Seite: Das Buch ist gut.
Der feurige Plot
"Fireman" ist ein postapokalyptischer Roman klassischer Prägung – außer was den Auslöser des Weltuntergangs betrifft: Spontane Selbstentzündung! Dragonscale heißt die Pandemie, die Menschen tattooartige schwarze Linien mit bezaubernden goldenen Pünktchen auf die Haut zaubert. Ist wirklich hübsch anzuschauen – bis sich die Befallenen in Rauch und Flammen auflösen, und zwar so explosionsartig, dass sie die umgebende Infrastruktur gleich mit abfackeln. Als (pseudo)wissenschaftliche Erklärung für diese bizarre Seuche reicht Joe Hill übrigens eine Pilzspore, Draco incendia trychophyton, die sich mit der Asche ihrer explodierten Opfer verbreitet. Dass es auf die naturwissenschaftliche Herleitung aber ohnehin nicht wirklich ankommt, zeigt der Umstand, dass einige Betroffene pyrokinetische Fähigkeiten entwickeln, welche diejenigen von Vater Kings "Firestarter" blass aussehen lassen.
Joe Hill hat schon ein gewisses Händchen für Ideen, die nach billigen Bühneneffekten klingen, im jeweiligen Roman dann aber doch irgendwie funktionieren. Siehe den verfluchten Anzug in "Blind" ("Heart-Shaped Box"), die Hörner, die dem Protagonisten von "Teufelszeug" ("Horns") wachsen, oder nun eben die menschlichen Waberlohen. Da verknüpft sich das Unerklärliche mit dem Banal-Alltäglichen zu surrealem Effekt:
Renée sah aus wie ein leuchtender Geist, wie eine vibrierende Silhouette aus weißem Licht mit üppigen weiblichen Umrissen. Nur das Muster der Dragonscale-Male hob sich von ihrem hellen Körper ab. Ihre Augen sandten blauweiße Strahlen aus und glichen tatsächlich den Todesstrahlen in einem Science-Fiction-Film aus den 1950er-Jahren. Ihre Topfpflanze hatte sie sich unter den linken Arm geklemmt. (...) "Macht euch keine Sorgen um mich, Jungs. Ich gehe jetzt besser raus, um zu explodieren, damit niemand verletzt wird."
Flucht aufs Land
Das Anfangsstadium der Pandemie erleben wir mit der Hauptfigur, der Krankenschwester Harper Grayson aus New Hampshire, in geraffter Form mit. (An der Stelle fragt man sich, wie es nach einem solchen Schnellzugstart noch über 900 Seiten weitergehen kann ...) Harper hat mit ihrem Ehemann einen Selbstmordpakt für den Fall einer Infektion geschlossen. Als sich dann tatsächlich Male auf ihrer Haut zeigen, hat sich die Lage aber grundlegend geändert: Harper ist schwanger geworden und will das Kind unbedingt noch zur Welt bringen. Also entwischt sie dem frustrierten Gatten und tut das, was im Weltuntergangsfall irgendwie alle immer tun: Sie flieht aufs Land.
Zuflucht findet sie in einem Camp, das von einem Pater und dessen Tochter geleitet wird. Über 100 Menschen leben hier – alle sind infiziert, scheinen die Krankheit aber dauerhaft unter Kontrolle zu haben. Statt zu verbrennen, strahlt man hier beim gemeinsamen Singen wie eine Weihnachtsreklame (das Große Leuchten). Das Harmoniegedusel in der Kommune klingt zwar sehr nach Hippie-Esoterik, funktioniert aber. Ein paar Alarmsignale sind freilich nicht zu übersehen. "All das, was zur eigenen Identität gehört, fällt von einem ab, und das wahre Selbst schält sich heraus", orakelt die Vizeleiterin die Kommunenphilosophie. Kontakt zur Außenwelt ist verboten wie in einer Sekte. Und spätestens die Hausregeln im Frauenschlafraum sollten alle Alarmglocken schrillen lassen. Die ebenso selbstgenügsame wie selbstgerechte Gemeinschaft wirkt, als wäre sie nur einen Schritt von der Zwangsherrschaft entfernt.
Der Feuer(wehr)mann
Der Titelfigur des Romans ist Harper zum ersten Mal in der Notaufnahme begegnet, als er sich mit einem kranken Jungen dreist an der Warteschlange vorbeidrängelte. Danach tauchte der Mann in Feuerwehruniform immer wieder in entscheidenden Momenten an ihrer Seite auf; er ist es auch, der sie ins Camp bringt. John Rookwood, so sein Name, lebt aber nicht mit den anderen zusammen, sondern bewohnt eine Hütte auf einer nahegelegenen Insel. John, meist nur Fireman genannt, ist ein Außenseiter. Und dass er Feuer nach Belieben manipulieren kann, ist nur eines der Geheimnisse, die ihn umgeben.
Kurioserweise ist der Fireman zwar die Titel-, aber in keiner Weise die Hauptfigur des Romans. Nicht einmal in dem Sinne, dass er – beobachtet durch die Augen der eigentlichen Hauptfigur Harper – zum Dreh- und Angelpunkt der Geschehnisse würde. Trotz seiner übernatürlichen Kräfte ist er nie der Lenker, sondern stets nur Harpers Helfer. Vorausgesetzt er braucht nicht gerade selber Hilfe: Schmächtig gebaut und zur Tollpatschigkeit neigend, stolpert John von einer Verletzung in die nächste, das entwickelt sich hier fast schon zu einem Running Gag á la Kenny in "South Park". Ungeschickt, kindsköpfig, zur Aufschneiderei neigend und dann wieder in sich zurückgezogen: All das macht den Fireman zu einem etwas unreif wirkenden, aber hochsympathischen Charakter. Nur nicht zu einem Helden. Spannende Entscheidung des Autors, den Roman nach ihm zu benennen.
Die Moral von der Geschicht
(Post-)Apokalypsen gibt es wie Sand am Meer, dann vergleichen wir "Fireman" doch gleich mit einer vier Jahrzehnte älteren Erzählung aus dem Hause King, "The Stand". Zumal Joe Hill hier während des Showdowns augenzwinkernd auf sie verweist (Die Hand! Achtet auf die Hand!). "The Stand" hatte in der ersten Hälfte sicher das weit glaubhaftere Pandemieszenario – leider war dieses danach aber mit einem Anfall von stockkonservativer Moral verknüpft: Hier gläubige und die Nationalhymne singende Dorfbewohner – dort die verlotterten Städter, die in Las Vegas dem Bösen anheimfallen.
Bei Joe Hill sieht das schon ausgewogener aus. Nicht umsonst erwähnt er mehrfach das berühmt gewordene "Kuschelhormon" Oxytocin: Das fördert bekanntlich die sozialen Bindungen in der Gruppe – allerdings ist es dem Hormon wurscht, ob diese Gruppe dann gemeinsam häkeln oder Leute massakrieren geht. Beide im Roman beschriebenen Gesellschaftsmodelle entwickeln sich in eine diktatorische Richtung. Im ach so harmonischen Camp machen sich nach einer Führungskrise Überwachung, Psychoterror und demütigende Bestrafungen breit. Und in der Außenwelt, den Resten der früheren Zivilisation, grassiert die Gewalt gegen Infizierte, bald gefolgt von religiösem Fanatismus.
Ist "Fireman" also hoffnungslos pessimistisch? Erstaunlicherweise keineswegs. Und einer der Hoffnungsschimmer im Roman liest sich noch einmal wie ein ironischer Kommentar auf die Moralinsäure von "The Stand". Auch hier empfangen die ProtagonistInnen nämlich Botschaften von einer Zufluchtsstätte, in der es eine Zukunft für sie geben könnte. Die kommen allerdings nicht von einer alten Vettel, die in einem Maisfeld hockt und mit Gott spricht, sondern von ... einer MTV-Moderatorin. Ältere LeserInnen werden sie vielleicht noch kennen.
Lang, aber nicht langweilig
Trotz seiner monströsen Länge war "Fireman" nicht der Roman, für den ich in dieser Rundschau am längsten gebraucht habe. Das liegt zum Teil daran, dass sich Horrorromane in der Regel schneller lesen als SF oder Fantasy, weil man während der Lektüre nicht ständig das ganze Worldbuilding im Hinterkopf mittransportieren muss. Aber es ist auch schlicht und einfach angenehm zu lesen, denn Joe Hill geht die Apokalypse erstaunlich unbeschwert an. Die Erzählweise lässt sich am ehesten charakterisieren wie der Fireman selbst: Sehr menschlich im Kern, um dann mit unschuldigem Blick immer wieder mal eine fiese Pointe rauszuhauen, die man ihr/ihm gar nicht zugetraut hätte. Etwa als eine Laiendarstellerin von einem Auto zerquetscht wird: Sie hatte gesagt, es sei sehr schwer, vor Publikum zu sterben, aber diese Szene hier war ihr leichtgefallen.
Noch kürzer ausgedrückt: "Fireman" ist ganz einfach unterhaltsam. Trotz Überlänge – es geschehen noch Feuerzeichen und Wunder.