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Weltweite Trauer nach dem Bombenanschlag in Manchester, hier in Zagreb. Solidarität zeigt sich nicht nur offline, sondern vor allem auch online.

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Die Medienwissenschafterin Katrin Döveling.

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Klagenfurt/Wien – In Nationalflaggen getauchte Profilbilder, millionenfach geteilte Memes wie das Londoner U-Bahn-Symbol mit der Aufschrift "We are not afraid" oder der Eiffelturm als Peace-Zeichen: Nach jeder Terrorattacke geht eine Welle der Anteilnahme durch die sozialen Netzwerke. Unter Hashtags wie #prayforberlin oder #prayformanchester drücken Menschen ihre Betroffenheit aus, Facebook-Gruppen und digitale Kondolenzbücher werden gegründet.

"Zum ersten Mal hat sich diese Form der virtuell gezeigten Anteilnahme und des Online-Trauerns nach dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo 2015 gezeigt", sagt Katrin Döveling. Die Kommunikationswissenschafterin wechselte kürzlich von der Uni Leipzig an die Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt, wo sie erforscht, wie Menschen soziale Netzwerke nutzen, um mit den Gefühlen umzugehen, die nach Terroranschlägen aufkommen. "Die Online-Plattformen ermöglichen es, Emotionen wie Schock und Entsetzen global auszutauschen und dadurch zu regulieren", sagt Döveling.

Das Bedürfnis, sich in hochemotionalen Situationen anderen mitzuteilen, zusammenzurücken und Trost in einer Solidaritätsgemeinschaft zu suchen, ist uralt und wurde seit jeher in religiösen Riten oder Demonstrationen ausgedrückt. Mit der Digitalisierung bekommt diese Form der Emotionsregulierung aber eine neue Dimension: "Im Social Web kann man sich mit komplett Unbekannten treffen, völlig unabhängig von Ort und Zeit. Der Einzelne gibt dem anderen auf globaler Ebene Mut, zeigt Solidarität und empfindet dadurch Gemeinschaft. Das kann eine beruhigende Wirkung haben", sagt Döveling. Eine Form von kollektiver Katharsis durch virtuelle Trauerarbeit also.

Religionsersatz im Netz

Es kommt dabei zu einer Verschiebung vom Privaten ins (zumindest zum Teil) Öffentliche. Trauer und Erschütterung, an sich zutiefst intime und private Gefühle, werden in die Welt hinausgepostet – wo sie ein breites Echo finden. Wo früher das nächste Umfeld Halt gegeben hat, bietet nun die virtuelle Gemeinde Zuflucht, um mit dem tief in die westliche Gesellschaft vorgedrungenen Terrorismus fertigzuwerden.

"Menschen besinnen sich und kommen in der Gemeinschaft des virtuellen Weltdorfs zusammen", drückt es Katrin Döveling aus. Die diversen Gebetsaufforderungen ("Pray for ...") auf Facebook, Twitter und Co hätten dazu geführt, dass religiöse Symbole und Rituale, die heute großteils aus der säkularisierten westlichen Welt verschwunden sind, in der digitalen Sphäre wieder aufleben.

Doch inwieweit handelt es sich bei Online-Trauerbekundungen einfach um narzisstische Selbstdarstellung, wie oft kritisiert wird? Das hat Döveling in einer kürzlich durchgeführten Studie mit US-amerikanischen und deutschen Facebook-Usern untersucht. "Es spielt schon eine Rolle, seinen Freunden zu zeigen, dass man solidarisch ist, aber in den meisten Fällen überwiegt echte Empathie", fasst sie zusammen.

Um diesen Phänomenen globalisierter Terroraufarbeitung näher auf den Grund zu gehen, hat Döveling ein internationales Forschungsprojekt gestartet. Wissenschafter aus 14 Ländern – darunter Deutschland, Österreich und andere europäische Länder sowie die USA, aber auch Jordanien und Ägypten – untersuchen im Zeitraum ab 2015, wie Facebook nach terroristischen Anschlägen genutzt wurde.

Verschiedene Emotionskulturen

Zusammen mit IT-Experten von der Fakultät für Technische Wissenschaften der Uni Klagenfurt sowie mit niederländischen und Schweizer Partnern werden eigens Analyseprogramme entwickelt, um die in Form von Facebook-Posts veröffentlichten Gefühle – von Trauer, Schock und Mitleid bis hin zu Trotzreaktionen und Wut – systematisch zu erfassen. Analysiert werden Texte, Bilder und Symbole im zeitlichen Verlauf und in verschiedenen Sprachen. "Wir wollen herausfinden, inwiefern sich verschiedene Emotionskulturen zeigen oder ob es länderspezifische Unterschiede gibt", sagt Döveling, die das Projekt leitet.

Ergänzend zur Inhaltsanalyse wollen die Forscher Befragungen durchführen, warum bestimmte Inhalte in welcher Form geteilt werden. "Wir wollen wissen, welche Rolle persönliche Nähe zum jeweiligen Anschlag spielt und ob es zu ei- nem Gewöhnungseffekt kommt – mittlerweile gehören terroristische Attacken leider schon fast zum Alltag", führt Döveling aus. Außerdem soll eine Eyetracking-Studie zur Verfolgung der Augenbewegung beim Ansehen von Bildern darüber Aufschluss geben, welche Darstellungen emotional wirksam sind.

Weil es sich hier auch um Bilder nach Anschlägen handelt, arbeitet Döveling parallel an einer Studie zur Forschungsethik in verschiedenen Ländern: "Es gibt keine festen und einheitlichen Leitlinien, wie die Forschung etwa mit Bildern von Toten umgeht. Mithilfe des internationalen Projektteams möchte ich erfassen, ob und welche Regelungen es zu einem ethisch angemessenen Umgang mit Daten gibt."

Wie digitale Trauerbewältigung auf persönlicher Ebene funktioniert, hat Döveling bereits in vergangenen medienpsychologischen Arbeiten erforscht. Anhand von Online-Plattformen für Trauernde hat sie herausgearbeitet, wie in sozialen Netzwerken der Verlust naher Angehöriger verarbeitet wird, konkret auf Verwitwet Forum, auf Young Wings und Elternlos.de für Kinder und Jugendliche, die einen Elternteil verloren haben, sowie auf Maximilian Projekt für Eltern, deren Kind verstorben ist.

Ventil für junge Menschen

"Gerade Kinder und Jugendliche können im Netz ihre Verzweiflung artikulieren, wenn sie das Gefühl haben, in der realen Welt auf wenig Verständnis zu stoßen, und ihre Emotionen nicht ausleben können", sagt Döveling über eines der Ergebnisse der Studie, die kürzlich im Journal of Broadcasting and Electronic Media veröffentlicht wurde. Auf derart spezialisierten Plattformen würden überwiegend weibliche User posten, die im Austausch mit anderen Empathie und Erleichterung finden, so die Studie. "Durch den Vergleich mit anderen Betroffenen lernen Trauernde ihre Situation neu zu bewerten und damit umzugehen", berichtet Döveling.

Egal, ob es sich um einen individuellen Verlust nach einem Todesfall oder um einen kollektiven Schock nach einen Terroranschlag handelt – die Mechanismen, wie Solidarität im Internet und digitale Trauerverarbeitung die Emotionen regulieren können, scheinen die gleichen. Mit einem durchwegs positiven Effekt sowohl für die persönliche als auch für die kollektive Psyche. (Karin Krichmayr, 29.6.2017)