Michikazu Matsune lässt ein Trio durch Salzburgs Altstadt rollen.


Foto: Bernhard Müller

Salzburg – Unter brennender Sonne vor dem Weihnachtsmuseum am Mozartplatz schwitzen fesche Madeln und Buam in Trachtenkleidung beim Volkstanz. Samstagmittag in Salzburg. Die touristengeflutete Stadt könnte mit ihrem Idyll ganz im Reinen sein. Wäre da nicht ums Eck dieser junge Mann, der mit einem Buch in Händen einen wahren Veitstanz aufführt.

Dieser Bote der Irritation zeigt, dass das Sommerszene-Tanzfestival ausgebrochen ist. "Der gehört ins Krankenhaus", fachsimpeln drei Anrainer am Rand des Residenzplatzes. Ob sie wohl wissen, dass gleich in der Nähe, im beschaulichen Döllerergässchen, zwei entrückt dreinblickende Männer lauern? Dem einen sitzt die Holzfälleraxt locker, der andere spielt mit einem Vorschlaghammer.

Das ist Kunst im öffentlichen Raum, eigens für Salzburg geschaffen von dem Wiener Choreografen Michikazu Matsune. Der vermeintliche Patient und alle anderen Tänzer in seiner siebenteiligen Performance What The Hell sind mutige Studentinnen und Studenten der lokalen Tanzakademie Sead. Auch einige junge Frauen, die, umgeben von einer Halde aus Salzburger Zigarettenstummeln, unsere Rauchkultur hochhalten. Oder eine Gestalt, die mit schwarzem Vollvisierhelm auf dem Kopf in die Menge der Touristen taucht. Und das verträumte Trio, das auf dem Pflaster der Brodgasse "ins Unbekannte" rollt.

Nicht zu What The Hell gehört der Volkstanz. Wohl aber eine Gruppe, deren Mitglieder im Hof des Salzburg-Museums hingebungsvoll mit von Salzburgern weggeworfenen Gegenständen tanzen: darunter mit einem kaputten Sessel, einem gebrauchten Plastikkanister und einer abgeschabten Teflonpfanne.

Echte Verunsicherung

Die Irritation ist hier Programm, und sie funktioniert 52 Jahre nach Günter Brus' Wiener Spaziergang immer noch. Bei der behördlich angemeldeten Premiere wurde die Polizei gerufen. Sie kam, sah und mahnte ab. So ist Matsune der Nachweis gelungen, dass kleine Verschiebungen der Alltagsnormalität zu echten Verunsicherungen führen können.

Im Theater beunruhigt der Tanz weniger. Bei dem Solo No Dance, No Paradise des Spaniers Pere Faura in der Arge erfreute sich das Publikum am Charme eines cleveren Nachfolgers der choreografischen Konzeptualisten der 1990er-Jahre. Ganz im Sinn der gegenwärtigen Freude am Spiel mit den Emotionen im Auditorium kehrt der Erbe den Minimalismus seiner Vorgänger in ein Spektakel um.

So wird No Dance, No Paradise zur Messung von Gefühlstemperaturen in einer subjektiven Tanzgeschichte mit Zitaten von Anna Pawlowas Der sterbende Schwan über Gene Kelly und John Travolta bis zu Fase von Anne Teresa De Keersmaeker. Dabei gelingen ihm tatsächlich schöne Momente, in denen Musik, Videobilder und der tanzende Körper miteinander zu einer Ode an das Tanzen verschmelzen.

Gesteigert wird dieser Ansatz noch in dem Quartett Evol der Belgierin Claire Croizé. Ganz wundervoll romantisch mit Musik von David Bowie und Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien, annehmbar choreografiert und – besonders von der charismatischen Finnin Emmi Väisänen – ausgezeichnet getanzt. Faura und Croizé liefern künstlerische Seelentröster für alle, die an den Umbrüchen der Gegenwart leiden.

Morbide, weinerlich oder kitschig sind diese Arbeiten nicht. Aber sie drücken die Melancholie einer Jugend aus, die den Zukunftsversprechungen 4.0 nicht glauben will. Folgerichtig geht es mit dem Salzburger Kollektiv Ohnetitel auf den Friedhof. Bei seiner personalintensiver, überkostümierter Stationenperformance Gärten von Gestern auf dem Salzburger Kommunalfriedhof steht ebenfalls Rilke Pate, mit dem Vers "Da steh ich und muß denken und muß sinnen, / so wie ein Träumender verloren sinnt".

Angesichts dessen braucht es die Aufforderung starker Künstler wie Matsune, sich mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Das Buch, mit dem der Veitstänzer auf dem Residenzplatz verrückt spielt, ist übrigens Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels. (Helmut Ploebst, 25.6.2017)