Wien – Europa soll sich nicht auf die Aufnahme von Flüchtlingen konzentrieren. Viel klüger sei es, europäische Firmen mit Milliarden-Subventionen dazu zu bringen, Jobs vor Ort zu schaffen. Dafür plädiert der Ökonom Paul Collier im STANDARD-Interview. In Zufluchtsorten wie Jordanien oder der Türkei sollen so Arbeitsplätze entstehen. Collier sieht darin keine einmalige Maßnahme, er will damit ein gänzlich neues Modell für den Umgang mit den weltweit 20 Millionen Flüchtlingen schaffen. Der Brite ist Experte für afrikanische Ökonomien. Er berät die deutsche Regierung und hat am Donnerstagabend Außenminister Sebastian Kurz getroffen.
STANDARD: Sie haben eine Idee, wie wir das globale Flüchtlingsproblem lösen können. Welche ist das?
Collier: Auf der Welt gibt es 20 Millionen Flüchtlinge. Wir stellen ihnen über das UNHCR (UN-Flüchtlingshochkommissariat; Anm.) Essen und eine Unterkunft zur Verfügung. Viele leben seit Jahren in Camps und dürfen nicht arbeiten. Das ist entwürdigend. Dank der Aufregung, die mein Buch – in dem ich über die Idee schreibe – ausgelöst hat, tut sich etwas. Wir müssen Jobs vor Ort schaffen. Die Weltbank, die 60 Jahre nichts für Flüchtlinge getan hat, nimmt zwei Milliarden Dollar in die Hand, um Jobs in den am stärksten betroffenen Ländern zu kreieren.
STANDARD: Welche sind das?
Collier: Die Flüchtlinge in Europa sind maximal die Spitze des Eisbergs. Der Großteil der Flüchtlinge der Welt lebt in nur zehn Ländern. Kein einziges davon ist ein europäisches Land! Die Syrer sind in der Türkei, in Jordanien, im Libanon. Viele Somalis gingen nach Kenia, aus dem Südsudan und Eritrea fliehen die Leute nach Äthiopien.
STANDARD: Wie wollen Sie Jobs schaffen?
Collier: Ich bin von der jordanischen Regierung um Hilfe gebeten worden. Das Land hat eine Million Flüchtlinge. Wir haben uns umgesehen und viele wirtschaftliche Möglichkeiten entdeckt. Die Flüchtlinge dürfen aber nicht arbeiten. Wir haben vorgeschlagen: Lasst sie arbeiten, und wir bringen die reichen Länder und die Weltbank dazu, dass sie ihre Firmen herholen. Sie haben zugestimmt.
STANDARD: Wie weit ist das Projekt?
Collier: Jordanien hat zugesichert, dass 200.000 Arbeitsgenehmigungen erteilt werden. 38.000 davon gibt es schon. Die Weltbank hat schon Geld geschickt, Firmen starten, dorthin zu gehen. Stellen Sie sich vor, das wäre seit 20 Jahren internationaler Standard! Wenn ein Land zerfällt, gibt es einen Automatismus: Es fließt Geld in die Zufluchtsorte, sofort. Firmen schicken nicht mehr Decken, sondern schaffen Jobs. Der Deal ist: 70 Prozent der Jobs gehen an Flüchtlinge, die restlichen an Einheimische.
STANDARD: Das Ganze soll ja über Förderungen laufen. Wir würden beispielsweise dem BMW-Konzern 20 Millionen Euro dafür geben, dass er in Jordanien investiert?
Collier: Zum Beispiel, ja. Und um Leute auszubilden. Das Ding ist: Wenn es vor Ort noch gar nichts gibt und BMW hingeht, eine Infrastruktur schafft und Leute ausbildet, dann kommt die nächste Firma und profitiert davon. Diesen öffentlichen Vorteil, den eine Firma schafft, muss man mit öffentlichem Geld ausgleichen. Ist das eine Schande, dass wir BMW oder VW mit Hilfsgeldern dabei helfen, dass sie Leute in sehr armen Ländern ausbilden und Arbeitsplätze kreieren? Daran ist nichts falsch.
STANDARD: Was ist die Rolle Europas in Ihrem Modell? Es bezahlt?
Collier: Hauptsächlich, ja. Unsere Stärke im Vergleich mit Jordanien ist, dass wir Geld und Firmen haben. Deren Vorteil ist, dass sie Arabisch sprechen und in der Nähe Syriens sind. Das ist die natürliche Arbeitsteilung. Europa soll aber nicht fein raus sein, wir sollten ebenfalls eine gewisse Zahl an Flüchtlingen aufnehmen. Einfach um klarzumachen, es geht nicht darum, uns von Leuten abzuschirmen, die wir nicht wollen. Europa hat lange nichts getan, wir haben das Problem ignoriert. Wir müssen unser Herz verwenden, aber auch unseren Kopf! Das ist das wichtigste Problem der Welt. Gutmütigen Schwachsinn können wir uns nicht leisten. Wir haben in der Flüchtlingskrise sechs Monate nur mit dem Herz und ohne Kopf agiert. Gott sei Dank haben das jetzt viele verstanden.
STANDARD: In Jordanien leben acht Millionen Leute, davon eine Million Flüchtlinge. Sie alle sollen Jobs finden?
Collier: Wenn man das Land alleinlässt, ist das schwierig, ja. Aber wenn internationale Firmen kommen, ist das schaffbar. Jordanien hat schon 40 Industriezonen. Davon steht eine neben dem größten Flüchtlingscamp Zaatari. Sie ist leer. Durch die sind wir überhaupt erst auf die Idee gekommen. Mittlerweile haben wir auch die EU überredet, dass Jordanien für zehn Jahre freien Zugang zum EU-Markt bekommt. Im Jänner war Angela Merkel in Äthiopien und hat eine Industriezone besucht.
STANDARD: Sie haben viel dazu geforscht, warum sich afrikanische Länder nicht entwickeln. Jetzt wollen Sie aus dem Nichts Millionen neue Arbeitsplätze schaffen.
Collier: Wir müssen nicht bei null anfangen, in Jordanien gibt es ja schon solche Zonen. Und selbst wenn es sie nicht gäbe, wäre es absolut schaffbar. Solche Zonen sind nicht teuer, China hat das schon vor Jahren gemacht.
STANDARD: Ihr Optimismus überrascht. Das Projekt in Jordanien ist doch erst wenige Monate alt. Sonst ist das noch nie in dieser Form probiert worden.
Collier: Wir kennen das Modell der Industrialisierung seit 250 Jahren. Menschen ohne jegliche Ausbildung gingen damals in Fabriken und wurden massiv produktiver.
STANDARD: Was ist mit der Sprachbarriere? Wenn in den Zonen Menschen verschiedenster Länder zusammenkommen ...
Collier: Wenn Menschen arbeiten wollen, nutzen sie ihre Hände. Eine viel größere Barriere ist es, wenn Flüchtlinge vor Ort nicht teilhaben. In den Camps haben sie derzeit null Anreiz, sich in irgendeiner Art in die Gesellschaft zu integrieren.
STANDARD: Besteht nicht die Gefahr, dass Ghettos entstehen?
Collier: Ja, das wäre nicht wünschenswert. Wir müssen aber nicht nur in Camps denken. Die meisten Flüchtlinge gehen in Städte. Man kann auch dort Jobs schaffen.
STANDARD: Staaten wie Syrien kollabieren ja auch unter anderem deshalb, weil es keine Jobs für Junge gibt. Warum dann nicht gleich dort helfen, bevor die Krise kommt?
Collier: Das sollten wir, aber das ist eine andere Diskussion. Ich arbeite mit der deutschen Regierung an einer Initiative für Afrika. 15 Regierungen sind dabei. Vergangene Woche habe ich ein Event mit sieben afrikanischen Finanzministern und 200 Firmen moderiert. Die Weltbank gibt nicht nur zwei Milliarden für die Zufluchtsorte für Flüchtlinge aus, sondern jetzt auch 2,5 Milliarden für Firmen, die in fragile Staaten gehen. Die Entwicklungspolitik ändert sich. Kein Land entwickelt sich ohne private Investitionen.
STANDARD: Wenn Ihr Konzept funktioniert, wie viel kann es zur Entwicklung Afrikas beitragen?
Collier: Sehr viel! China hat die Armut so schnell reduziert wie kein anderes Land zuvor, weil internationale Firmen ins Land sind. Jetzt lagern Firmen ihre Produktion von dort nach Äthiopien aus. Die Wirtschaft wächst jedes Jahr um sieben oder acht Prozent. Auch in Ruanda und Ghana entwickeln sich Cluster. So kann Afrika das nächste China werden. (Andreas Sator, 24.6.2017)