Manchmal ist die Grenze zwischen dem, was in herkömmlichem Sinne das Menschliche ausmacht, und dem, was danach kommt, eine äußerst schmale. Und üblicherweise verursacht die Begutachtung dieser Grenze ein beklemmendes, verwirrendes Gefühl, dem sich auszusetzen nicht einfach ist, weil alles Menschliche in den Betrachtenden gleich mit infrage gestellt wird. Spätestens bei der Frage, wie man selbst gehandelt hätte.

Das mag bei Raubmord und ähnlichen Verbrechen leichter zu beantworten sein als bei Vorkommnissen widrigster Umstände. Franzobel hat sich in seinem bisher besten Roman intensiv mit diesen Grenzüberschreitungen beschäftigt, die Momente der Querung in Zeitlupe herausgearbeitet. "Das Floß der Medusa" ist ein mutiges Werk, das Verzweiflung und Ekel dennoch überraschenderweise mit bestechendem Humor kombiniert.

Die Schilderung jener Wandlungen, die die Überlebenden des Schiffsunglücks der Medusa 1816 durchleiden müssen, um zu überleben, geht tief in die Magengrube.

Das französische Schiff war auf dem Weg in die Kolonie Senegal auf eine Sandbank aufgelaufen. 147 Passagiere und die Mannschaft, die keinen Platz in Rettungsbooten fanden, pfercht man auf einem Floß zusammen. Als das manövrierunfähige Floß zwei Wochen später gefunden wird, sind noch 15 Menschen am Leben. Welchen Preis hatten sie gezahlt? Die Vorräte waren rasch zu Ende, und zur Auswahl standen Leichenfleisch – und Menschenfleisch noch Lebender.

Fragen der Ethik, der Überzeugung, des Lebenswillens müssen beantwortet werden – zwischen unfreiwilliger Eigenurintherapie und dennoch geistreichen philosophischen Überlegungen. Der verantwortliche Kapitän de Chaumareys (quasi durch das passende Parteibuch und trotz nicht einmal in Spuren auftretender Eignung zu Arbeitsehren gekommen) weist jede Verantwortung von sich, was durchgeht – und eine unschöne Brücke in die Gegenwart bildet. "Frankreich sucht den größten Unmenschen" geht hier beinahe unentschieden aus. (Julya Rabinowich, 24.6.2017)