Seyran Ates: "Wir behaupten nicht, die Wahrheit über den Islam zu besitzen."

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STANDARD: Zeitgleich mit dem Erscheinen Ihres Buches "Selam, Frau Imamin" haben Sie in Berlin die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee eröffnet. Sie ist benannt nach dem andalusischen Philosophen, dem das Abendland die Kenntnis von Aristoteles verdankt, und dem Dichter Goethe. Was veranlasste Sie zu dieser Namenswahl?

Seyran Ates: Als liberale Muslime wollen wir damit ein Signal setzen. Orient und Okzident gehören zusammen, wie Goethe das in seinem West-östlichen Divan zum Ausdruck bringt. Goethe war ein großer Bewunderer der islamischen Theologie. Er befasste sich mit dem Koran und der islamischen Mystik. Ibn Rushd, der Vordenker der islamischen Aufklärung, und er sind Brückenbauer. Sie verkörpern mit ihrem Werk den west-östlichen Dialog. Einen solchen Ort wollen wir schaffen, an dem Muslime aller Konfessionen, Andersgläubige und Atheisten willkommen sind und der interreligiöse Dialog lebbar wird. Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen Muslimen, Juden und Christen. Auf die wollen wir uns besinnen, statt die Unterschiede zu betonen, wie das heute häufig geschieht. Der Islam soll nicht nur mit Hass und Terror in Verbindung gebracht werden.

STANDARD: Der Religionsphilosoph Ahmad Milad Karimi stellte selbstkritisch fest, dass genau diese Vermittlung bisher nicht gelungen sei.

Ates: Politische Interessen und Machtgehabe üben leider starken Einfluss auf die Vermittlung aus. Wir liberalen Muslime müssen mehr am öffentlichen Bild des Islams mitarbeiten. Das dürfen wir nicht länger den konservativen Verbänden überlassen. An uns ist es, einen friedlichen Islam der Liebe und Barmherzigkeit zu zeigen. Dazu gehört die Vermittlung in die Masse der Muslime hinein, die wie auch ich kein Arabisch können. Sie sind darauf angewiesen, dass ihnen die Texte in richtiger Übersetzung geboten werden.

STANDARD: Wollen Sie mit Ihrer Moschee auch Vorbild sein?

Ates: Ja, auch die friedlichen Muslime tragen Verantwortung dafür, dass unsere Religion von Fundamentalisten missbraucht wurde. Zu lange sind wir nicht auf die Straße gegangen, haben uns nicht organisiert, keine Moscheen gegründet. Deshalb wollen wir Vorbild sein für alle aufgeklärten Muslime. Wir müssen zeigen, dass es diese schweigende Mehrheit friedlicher Muslime gibt.

STANDARD: Sie lassen sich selbst zur Imamin ausbilden ...

Ates: Wir stehen in einer jahrhundertealten Tradition. Unser Vorbild ist die Islamwissenschafterin Amina Wadud. Sie betete 2005 in New York als Imamin vor. Auch in islamischen Ländern praktizieren viele Muslime wie wir in unserer Moschee, dass Männer und Frauen gemeinsam beten und eine Frau vorbetet, die Predigt spricht.

STANDARD: Wie aufgeschlossen erleben Sie die Menschen Ihrer Moscheegründung gegenüber?

Ates: Ich erhalte viel Zuspruch. Zwar gibt es auch Kritik von Menschen, die sich nicht gern bewegen und Veränderungen ablehnen. Aber ich bin zuversichtlich, die Menschen, die sich uns gegenüber skeptisch zeigen, davon zu überzeugen, dass wir nebeneinander existieren können. Das ist für mich Toleranz. Wir behaupten nicht, die Wahrheit über den Islam zu besitzen.

STANDARD: Sehen Sie die Gefahr einer Spaltung des Islams?

Ates: Diese Spaltung ist längst da. Der Islam ist von Indonesien bis Marokko sehr vielfältig. In Indien wird er zum Teil liberaler gelebt als in anderen Ländern. Extrem konservativ zeigt er sich im Iran und in Saudi-Arabien. In Europa erleben wir einen europäischen Islam. Aber wir wollen zeigen, dass es überall auf der Welt Menschen gibt, die für einen progressiven und toleranten Islam stehen. Diese Menschen wollen wir in unsere Moschee einladen.

STANDARD: Die Türkei galt lange als Vorbild für einen laizistischen Staat mit islamischer Bevölkerung. Droht sie unter Erdogan ein autoritärer religiöser Staat zu werden?

Ates: In der Tat hätte Erdogan aus der Türkei ein viel demokratischeres Land machen und damit zeigen können, wie gut Islam und Demokratie zusammengehen. Er hatte die Unterstützung vieler liberaler Türkinnen und Türken. Auch die kurdische Bevölkerung wählte ihn, weil es schien, als würde er Frieden bringen. Als muslimischer Demokrat war er ein Hoffnungsträger für viele. Dann änderte sich alles. Gegenwärtig haben wir in der Türkei politische Verhältnisse, wie sie – mit anderen Vorzeichen – vielleicht bei Atatürk herrschten. Atatürk konzentrierte ebenfalls viel Macht auf sich. Er verdrängte die Religion, während Erdogan sie in die Politik holt, was für eine Republik kein gutes Zeichen ist. Mittlerweile kann man die Türkei nur noch auf dem Papier als laizistisches islamisches Land ansehen.

STANDARD: Gibt es noch einen Staat mit islamischer Bevölkerung, der als Vorbild dienen kann?

Ates: Nicht mehr. Die Türkei hätte ein solcher Staat sein können. Die sogenannte Ankaraner Schule, die an der islamisch-theologischen Fakultät der Universität von Ankara eine wissenschaftliche Erforschung des Islams betrieb, war einzigartig. Ihre historisch-kritische Lesart des Korans brach mit der Überzeugung, der Korantext sei wörtlich zu nehmen. Die Ankaraner Theologen verstanden den Koran nicht als ewig gültige Offenbarung. Vielmehr suchten sie nach dem religiösen Sinngehalt und einer zeitgemäßen Auslegung. Dieser aufgeklärte Islam hätte sich durchsetzen können. Denn es entstanden damals weitere Fakultäten nach dem Vorbild Ankaras. Aber der politische Islam gewann die Oberhand.

STANDARD: Der jüngst verstorbene Schriftsteller Juan Goytisolo sah die Ursachen für das Erstarken des islamischen Fundamentalismus im Scheitern westlicher politischer Modelle. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts übernahmen die europäischen Mächte die Vorherrschaft in der arabisch-islamischen Welt. Es entstanden aber keine Demokratien, sondern korrupte Unterdrückungsregime. Hoffnungen wurden enttäuscht ...

Ates: Diese Einmischung des Westens hatte immer einen kolonialistischen und missionarischen Charakter. Sie zielte auf eine Christianisierung der Gesellschaft, eine Anpassung an eigene Vorstellungen. Auch war sie mit Macht und Arroganz verbunden. Hätte man im Nahen Osten nicht so viel Erdöl gefunden, ginge es der islamischen Welt heute besser. Sie hätte ohne diesen Rohstoff keine solche ökonomische Wichtigkeit erlangt, dass die Weltmächte auf sie zugreifen, wie die USA und andere westliche Staaten es tun. Nach der Kolonialisierungsphase zeigten sie kein weiteres Interesse, den Demokratisierungsprozess auch zu stabilisieren. Deshalb leiden so viele Länder nach wie vor unter den Folgen. Das Trauma der Eroberung und der Kolonialisierung belastet sie bis heute.

STANDARD: Der 2010 verstorbene islamische Gelehrte Mohammed Arkoun warf dem Westen vor, er habe die Moderne als Mittel zur Herrschaft benützt ...

Ates: Er missbraucht sie. Dadurch verhindert er die Demokratisierung in ganz Afrika und insbesondere in den islamischen Ländern. US-Präsident Trump setzt islamische Länder auf eine schwarze Liste, um dann ein riesengroßes Waffengeschäft mit Saudi-Arabien abzuschließen. Das saudische Regime finanziert nicht nur den islamistischen Terror, sondern unterstützt auch westliche Moscheen, die einen rückwärtsgewandten Islam verbreiten. Dieses Geschäft zwischen den USA und Saudi-Arabien wurde uns liberalen Muslimen ins Gesicht geklatscht. Syrien ist ebenfalls ein solches Beispiel. Das sind doch nicht wirklich die Sunniten und Schiiten, die sich da im Krieg miteinander befinden. Da werden seit Jahren Stellvertreterkriege geführt. Es sind die USA, Frankreich, Deutschland und Russland, die Kämpfe um ihre Interessen im Nahen Osten austragen. So sehr ich Erdogan und sein politisches Handeln kritisiere, muss ich doch zugeben, dass er davor gewarnt hat und oft gesagt hat, wir Muslime müssten uns zusammentun gegen den Westen.

STANDARD: Worin sehen Sie Ihre wichtigste Aufgabe für die Zukunft?

Ates: Die erste Muslimin war Hatice, Mohammeds erste Frau. Sie war Geschäftsfrau und machte dem 15 Jahre jüngeren Mohammed selbst einen Heiratsantrag. 25 Jahre waren die beiden verheiratet, und sie hatten fünf Kinder. Auch bestärkte sie ihn darin, an seine Berufung zum Propheten zu glauben. Es gibt vieles von dieser starken Frau zu erzählen. Sie wird aber viel zu wenig gewürdigt. Wir wollen fundierter über sie und andere für den Islam wichtige Frauen forschen. Wir wollen Moscheen gründen, die Frauennamen tragen. (Ruth Renée Reif, Album, 24.6.2017)