Am 23. Juni 2016 entschied sich die Mehrheit der Briten, aus der EU auszutreten.

Foto: AFP/JUSTIN TALLIS

Robert Winder ärgert sich über "diffusen Zorn" vieler Briten.

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STANDARD: Herr Winder, sehen Sie ein Jahr nach dem Referendum eine Möglichkeit, dass es nicht zum Brexit kommt?

Winder: Na ja, die ist eher theoretisch. Aber schauen Sie sich in der Welt um, was in letzter Zeit alles so passiert ist. Ganz ausschließen sollte man es sicher nicht. Zumal die Folgen eher schlimmer werden, nicht besser.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Winder: Schon jetzt fühle ich mich an die 1970er-Jahre meiner Jugend erinnert: Streiks, soziale Unruhen, ein diffuser Zorn und Nordirland wieder in den Schlagzeilen.

STANDARD: Und ziemlich unklare politische Verhältnisse.

Winder: Das kann man wohl sagen. Ich hatte vorhergesagt, dass Theresa May sich mit der vorgezogenen Wahl eine blutige Nase holen würde.

STANDARD: Weil sie vom "nationalen Interesse" redete, wo es um nackte Parteipolitik ging?

Winder: Jeder wusste, dass sie die Wahl nur vorzog, weil sie plötzlich verstanden hatte, wie sehr die Wirtschaft durch den Brexit in Mitleidenschaft gezogen würde.

STANDARD: Wie hat sich das Land verändert?

Winder: Für die jungen Leute war der Brexit ein Weckruf. Deshalb sind sie bei der Wahl auch in so großer Zahl zur Urne gegangen. Das ist natürlich toll. Insgesamt ist aber mein Gefühl: Wir haben einen riesigen Schritt zurück gemacht, in die 1970er-Jahre. Das Land kommt mir vor wie die Insassen eines Autos, das auf die Klippe zusteuert. Anstatt auf die Bremse zu treten, wird unentwegt gehupt. Die finden den richtigen Knopf nicht.

STANDARD: Eine alarmierende Parallele.

Winder: Sie können sich auch ein Mittagessen vorstellen. Bisher wird den Leuten die Idee vermittelt, dieser Lunch sei kostenlos. Dabei ist aber lediglich die Rechnung noch nicht angekommen. Und jedes Mal, wenn man sie erwähnt, empören sich die Leute. Das ist wirklich erstaunlich. Beim Referendum wurden die Leute gefragt, ob sie ihr Haus verkaufen möchten. Die Antwort war Ja. Aber damit ist ja der Verkauf nicht geklärt. Wollen Sie das Haus für eine Million verkaufen? Natürlich. Für zehn Pfund? Natürlich nicht.

STANDARD: Vor einem Jahr sagten Sie: "Das Land liegt im Fieber." Ist es mittlerweile aus dem Fieber erwacht?

Winder: Ganz erkennbar nicht. Ich bin sehr niedergeschlagen. Das Land hatte ganz viele Probleme. Die EU-Mitgliedschaft gehörte nicht dazu. (Sebastian Borger aus London, 23.6.2017)