Grafik: Felix Woodstock Grütsch

Wenn Sie auf Youtube "Oida" eingeben, finden Sie das Video der polnischen Schauspielerin Ewa Placzynska, die das Wort "Oida" (Alter) auf zig verschiedene Weisen verwendet. Als Tipp für Österreich-Besucher ohne Sprachkenntnisse intendiert, zeigt es aber genauso, dass die Bedeutung eines Wortes in seinem Gebrauch in der Sprache liegt – eine These, die der österreichische Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein in seinem Spätwerk vertreten hat.

Was mich an Placzynskas Darstellung interessiert, ist die Vielfalt der Szenen, die hinter dem je selben zur Aufführung kommenden Wort liegen. Es ist also nicht nur der Gebrauch des Wortes mit seinem Tonfall, seiner Aussprache und Gestik allein, sondern das Kennen von diversen Sprachszenen, die uns ermöglichen, die Bedeutung des jeweiligen "Oida" zu verstehen. Placzynska verwendet "Oida" etwa für "Ich bin verwirrt – ich habe mir wehgetan – das ist aufregend – ich habe mich verirrt". Man kann "Oida" aber auch als Befehl verwenden, zeigt sie, etwa um jemandem zu sagen, er solle die Herdplatte abschalten, die er angelassen hat. "Oida!" Am Schluss setzt sie dem Ganzen noch ein krönendes "Jetzt fällt mir nichts mehr ein"-Oida drauf.

In den späten 80er- und frühen 90er-Jahren habe ich in Österreich in zahlreichen Rhetorikseminaren gelernt, dass unseren Aussagen und Handlungen so etwas wie "Brainskripts" zugrunde liegen, Situationen oder Szenen, die wir kennen und die im Hintergrund mitlaufen. Bedeutung entsteht so durch ein komplexes Gefüge von Wortverwendungen und Handlungen immer auf dem Hintergrund dieser Szenen, die wir wieder zur Aufführung bringen.

Bei meiner Rückkehr nach Österreich (nach fünf Jahren in Deutschland und 15 in den USA) wurde mir sofort klar, dass diese Hintergrundskripts nun nicht mehr reibungslos funktionierten. Weil ich perfekt Dialekt spreche, wurde ich zwar als "Dasige" wahrgenommen. Man begegnete mir aber ständig mit Irritation, da meine Bewegungen und Reaktionen einfach nicht dem Tempo oder dem, wie man so tut, entsprachen. Beim Bäcker habe ich versucht, sofort zu bezahlen oder Trinkgeld in ein nichtvorhandenes Glas zu werfen und mir meine Sachen selbst zum Tisch zu tragen. So macht man das in New York, aber nicht in Linz, wo die Bäckerin einem das alles abnimmt und man gerne am Schluss bezahlen kann. Mein Nicht-ganz-richtig-Ticken wurde oft mit Irritation, manchmal richtiggehend mit Ärger quittiert. Ich bin dann dagestanden und habe zu mir gesagt: "Sie können ja nicht wissen, dass du Amerikanerin bist."

Wenn ich mit Menschen auf der Straße einfach zu reden beginne und diese nicht antworten, sagen meine Kinder oft: "Mami, warum hat sie nichts gesagt?", und ich antworte, dass sie hier einfach nicht damit rechnen, dass jemand, den sie nicht kennen, mit ihnen spricht. Dabei habe ich schon vor der Rückkehr begonnen zu üben, wieder Europäerin zu werden: "Nicht so viel lächeln", habe ich mir gesagt, "nicht einfach mit allen reden, sonst glauben sie, du bist eine 'blöde' Amerikanerin." Ich kenne ja die alten Skripts noch, wie Leute abgeurteilt werden, die viel reden, zu laut sind oder ihre Emotionen zeigen.

Aber deshalb bin ich ja weggegangen. Um mich selbst neu in Szenen einzuschreiben, um mir eine erträglichere Rolle zu geben in den Szenen, an denen ich teilhatte. Wir laufen vor den Szenen davon, die uns zwar geprägt, aber nicht gepasst haben, und versuchen sie jahrelang zu verstehen und auszutauschen mit solchen, in denen wir eine Rolle spielen.

Vor dem Beginn meines neuen Jobs war ich ein paar Mal an meiner neuen Universität und habe in der Bibliothek gearbeitet. Oft bin ich dann in den Pausen vor einem der Hörsäle gesessen, um Kaffee zu trinken. Und oft wurde ich da auch von zukünftigen Kollegen angetroffen, die mich freundlich fragten, ob ich denn auf eine Prüfung warten würde. Meine Antwort "Nein, ich bin die neue Assistenzprofessorin für Geschichte der Philosophie" wurde dann mit "Oh, Entschuldigung, ich konnte ja nicht wissen ..." quittiert. Aber warum konnten sie nicht wissen?

Nur das Wahrhaben der unterliegenden Szenen kann uns dazu in die Lage versetzen, wirklich zu verstehen, was wir sagen und tun. Dann gibt es die Ausrede "Ich hätte ja nicht wissen können" oder "So habe ich das nicht gemeint" nicht mehr, denn dann muss man sich eingestehen, was man alles einfach mitgemeint hat. Wenn viele Menschen mit denselben Skripts oder Szenen aufgewachsen sind und diese dann ihr Leben lang weiter aufführen, sieht man oft gar nicht, was die Worte bedeuten, die die Menschen sagen.

Abstand, um zu sehen

Alva Noë schreibt in seinem Buch Strange Tools, dass es mit Stil etwas Seltsames auf sich hat. Während wir klar den Stil verschiedener Maler erkennen können, ist es doch recht unklar, woraus er sich zusammensetzt. Es stellt sich z. B. heraus, dass Fälschungen einen Zeitstempel oder Ablaufwert haben. Nach 20 Jahren "funktionieren" sie nicht mehr, was sie in ihrer Zeit gerade zu guten Fälschungen gemacht hat, sieht man ihnen jetzt als Unterschied an. Ähnlich ist es mit Filmen, zum Beispiel irritiert uns Blade Runner, ein futuristischer Film, heute durch seine 60er-Jahre-Haarschnitte und Jackengeometrien der 60er-Jahre, die damals niemandem aufgefallen sind. Man braucht also Abstand, um solche Moden und Stile zu sehen, genauso wie es Abstand zu den eingeformten Sprach- und Handlungsszenen braucht.

Ich habe in meinem Leben durch zeitlichen und räumlichen Abstand wesentliche Szenen umgeschrieben, um eine annehmbare Rolle in meinem eigenen Leben spielen zu können. Was mache ich, wenn ich beim Zurückkommen sehe, dass die alten Filme laufen und mir nur bestimmte Rollen in bestimmten Szenen zugestanden werden? Oida?!?! (Aloisia Moser, 16.6.2017)