Erst kürzlich stand ich wieder vor dem Problem, dass gute Freunde umgezogen sind, und ihre nicht-barrierefreie Wohnung mit meinem Rollstuhl nicht besuchbar ist. Ein Blick in die Kontakte meines Handys wirft die Frage auf: Wie viele von meinen nicht-behinderten Bekannten, deren Telefonnummern ich besitze, kann ich besuchen? Das ernüchternde Ergebnis: Acht von 65. Stellen Sie sich vor, dass Sie nur zehn Prozent der Personen, mit denen Sie im direkten Kontakt stehen, besuchen können.

Alle sind betroffen oder mitbetroffen

Die Umsetzung von Barrierefreiheit ist nicht nur eine Frage humaner oder sozialer Einstellungen, sie ist als essentieller Teil der Politik zu sehen, sie zielt auf bessere Bedingungen im Alltag für alle Menschen ab. Ganz allgemein kann davon ausgegangen werden, dass vom Wohnungsbestand in Österreich nur circa drei bis vier Prozent nach technischen Standards barrierefrei gestaltet sind. Genaue Zahlen gibt es nicht. Obwohl, wie die Zeitschrift "Haus und Eigentum" im Juni 2012 schreibt, "eine barrierefreie Umwelt … für etwa zehn Prozent der Bevölkerung zwingend erforderlich [ist], für etwa 30 bis 40 Prozent notwendig und für 100 Prozent komfortabel." 

Diese Zahlen berücksichtigen allerdings noch nicht, dass im Laufe des Lebens nahezu alle Menschen irgendwann auf Barrierefreiheit angewiesen sind oder einen Mangel an Barrierefreiheit persönlich, als Angehörige, Freunde oder sonstige Mitbetroffene direkt als Barriere erleben. Eltern mit kleinen Kindern und Kinderwägen verstehen das Problem, ältere, von Krankheit oder sei es nur Müdigkeit beeinträchtigte Personen sowieso, aber auch junge Menschen mit Skateboards und Scootern wissen barrierefreie Wege und Zugänge zu schätzen.  

Barrierefreiheit betrifft alle Bürger.
Foto: Foto: getty images/istockphoto/TataChen

Überzogene Baustandards?

Doch Barrierefreiheit ist in Österreich eine Baustelle, mit unbedachten, persönlichen und finanziellen Folgen für die Einzelnen: Isolation und Aussonderung von auf Barrierefreiheit angewiesenen Personen, hohe Belastung von Familien und sozialen Netzen sowie ein enormer Druck in Richtung Heimaufnahme, vor allem bei älteren Menschen, aber häufig auch bei jüngeren, die aufgrund eines Unfalls oder einer Erkrankung barrierefreien Wohnraum benötigen. Politische Konsequenzen waren und sind in Österreich bisher – typisch – halbherzig.

Ein Teil der Realität ist, dass Verschlechterungen betrieben werden: In einer in den letzten Jahren geführten bundesweiten Kampagne der Wirtschaftskammer und der Bauinnung gegen "überzogene Baustandards", das heißt zur Deregulierung der Bauordnungen, wurde behauptet, durch Deregulierung der Bauordnungen könnten neue Wohnungen um 15 Prozent billiger werden. Lifte wurden dabei immer wieder als Kostentreiber besonders erwähnt, wie es 2012 in einem Inserat der WKO in der "Tiroler Tageszeitung" heißt: "In Tirol sind derzeit bereits ab drei oberirdischen Geschossen Aufzugsanlagen vorgeschrieben, sogar bei Aufstockungen. Dadurch werden viele Wohnungen unnötig verteuert ... Barrierefreiheit ist uns äußerst wichtig, aber es muss sicher nicht jede einzelne Tiroler Wohnung barrierefrei sein. Denn erfreulicherweise ist ein Großteil der Bevölkerung gesund und sehr mobil."

Bruch der Behindertenrechtskonvention

Die meisten österreichischen Bundesländer haben in den letzten Jahren diesen Forderungen der Wirtschaftskammer nachgegeben und trotz Protesten von Organisationen von Menschen mit Behinderungen Bestimmungen zur Barrierefreiheit verschlechtert. Und das unter Bruch der von Österreich ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention, die Verschlechterungen nicht erlaubt. Es wurden weder der Nachholbedarf an barrierefreien Wohnungen berücksichtigt, noch die langfristigen sozialen und finanziellen Folgen mangelnder Barrierefreiheit. Völlig ausgeblendet wurde, dass die von der Bauwirtschaft beklagte "Kostenexplosion" nicht der geforderten Barrierefreiheit, sondern der Bau- und Grundspekulation, der Politik der Investmentbanken, der Billiggeld-Politik der Europäischen Zentralbank, die Investoren ermutigt im großen Stil in den Immobilienmarkt zu investieren, wie die "Tiroler Tageszeitung" am 16. Mai 2017 schreibt, und der Verbindung der Bauwirtschaft mit Konjunkturpolitik geschuldet ist.

Nur in diesem Zusammenhang ist zu verstehen, dass die Wohnbauförderung des Bundes an die Länder nicht oder nur kaum an Standards wie Barrierefreiheit gebunden wurde – auch der Bund drückt sich vor dem Problem und nützt nicht die ihm zur Verfügung stehenden Instrumente, agiert vor allem im Sinne von Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik. Stadt- und Regionalentwicklung zur Erhöhung von Wohnqualität für alle Menschen im Sinne sozial und wirtschaftlich nachhaltiger Umweltgestaltung – ein grundlegendes menschliches Bedürfnis – gehen im Dschungel von Interessenspolitiken sowie Bundes-, Landes- und Gemeindekompetenzen ziemlich unter.

Barrierefreiheit im Wohnbau ist in Österreich eine Baustelle.
Foto: Volker Schönwiese

Baupolitik und Entfremdung – ein Zitat

Der bekannte Architekt Roland Rainer hat die Zusammenhänge 1984 im ORF schon klarsichtig benannt: "Es ist zu fragen, ob diese Städte und diese Wohnungen, in denen wir leben und die wir übernommen haben, ob die eigentlich den Gesunden gerecht werden. Sie werden nicht einmal dem gesunden Kind gerecht, nicht einmal der gesunden Mutter, die ein gesundes Kind im Kinderwagen schiebt …, nicht?; Wir wissen, dass diese Städte zum großen Teil Ergebnisse der Bodenspekulation [sind], dass diese Häuser gar nicht gebaut worden sind, um Menschen ein menschliches Dasein zu ermöglichen, sondern nur um möglichst große Gewinne durch Bodenspekulation und Bauspekulation zu erzielen … Das heißt also, wir müssen uns fragen, glaube ich, wieweit die Stadt, in der wir leben und die wir übernommen haben, wieweit sie überhaupt den Menschen ein geeignetes Leben gibt. Und anhand der Behinderten können wir vielleicht besonders im Detail erleben, welche Erschwernisse sie uns allen täglich gibt. Denn es ist ja auch für einen gesunden Menschen eine Behinderung, dass er mit dem Aufzug in den 20. Stock und dann wieder herunterfahren muss, dass Kinder in so einem Haus überhaupt sich nicht frei bewegen können, nicht ihren Spielplatz erreichen können, dass die Leute sich miteinander nicht unterhalten können, dass es keine Nachbarschaft gibt, sondern Entfremdung. Das heißt, diese Stadt, wie wir sie jetzt haben, und wie sie der Ehrgeiz vieler Techniker und Architekten heute noch ist, diese Stadt ist nicht einmal für die Gesunden geeignet, erst recht nicht für Behinderte." (Volker Schönwiese, 22.6.2017)

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