Neustift bei Brixen – Wort und Wein finden hier seit Jahrhunderten zusammen. Das 1142 gegründete Kloster Neustift liegt ebenso mächtig wie andächtig, von Rebenreihen gesäumt im Talkessel der alten Bischofsstadt Brixen. Die Bibliothek mit ihren fast hunderttausend Bänden ist in Barockherrlichkeit untergebracht, unweit einer der weltweit ältesten aktiven Weinkellereien. Ein höchst günstiger Ort für das internationale Literaturfestival "Weinlesen", vom Team um Sabine Gruber und Michael Stiller hier zum zweiten Mal ausgerichtet.

Zwar stand kein weiterer Obertitel über dem opulenten Programm, aber es ging bei aller Vielfalt auch diesmal um Beziehungen über Grenzen hinweg: Vom donnerstäglichen Auftakt des italienischen Poetaktivisten Erri De Luca bis zur sonntäglichen Matinée mit Dimitré Dinev und den drei Schweizer "Gebirgspoeten" Rolf Hermann, Mato Kämpf und Achim Parterre, die ländliche Klischees gewitzt auseinander nahmen.

Vor einem Jahr, beim Debüt von "Weinlesen", hatte sich Lukas Bärfus ebenso kritisch wie deutlich für ein wahrliches gemeinsames Europa just in jenem Moment ausgesprochen, als oben am Brenner die Abschottung, Festung statt Fest, geprobt wurde. Beeindruckend nun der Auftritt von Erri de Luca, der kurz zuvor bei den "Menschenfischern" im Mittelmeer gewesen war. Dieses diene heute als "Burggraben um das Schloss Europa", sagte er und rief in Erinnerung, dass ja Kultur und Monotheismus in Vorzeiten gerade über das Mittelmeer gekommen seien, auch Aeneas ein Flüchtling. Gegen die politischen Herrschaften der Narrative müssten die Möglichkeitsräume der Sprachkunst verteidigt werden, Bücherlesen möge gegen die Lügen der "Amtsträger" immunisieren.

Sterbende Europäer

Über "Sterbende Europäer" debattierte Friedrich Orter mit Karl-Markus Gauß, dessen – der ethnisch-kulturellen Vielfalt nachspürendes – Buch dem Samstagvormittag im schönen Augustinisaal die Überschrift verlieh. Gekonnt moderiert vom ORF-Journalisten Andreas Pfeifer sahen die Herren die Zukunft des Kontinents zunächst recht dunkel. "Wir stehen vor großen Herausforderungen, deren Lösung wir nicht den Populisten überlassen dürfen", waren sie sich einig und schlossen "strategisch optimistisch": Er sehe auch deswegen eine europäische Zukunft, sagte Pfeifer, "weil Sie, die Schriftsteller, weiter schreiben."

Tags zuvor stand zunächst die Stiftsbibliothek im Zeichen und Wort der vor zwanzig Jahren früh verstorbenen Anita Pichler: eine berührende Erinnerung an die erste Südtiroler Schriftstellerin, die über die Grenzen des Landes hinaus bekannt wurde.

Europäische Ausmaße führten dann die Lesungen auf dem Stiftsplatz vor Ohr, wo die Winzer ihre Lese präsentierten. Als Gauß mit seinen Reise-Erzählungen nach Moldawien und Zagreb mitnahm; Katja Lange-Müller die Krankenpflegerin ihres Romans an einer Flughafen-Drehtür Lebensepisoden in vielen Provinzen des Menschen erinnern und zugleich die Frage des Helfens reflektieren ließ; Jonas Lüscher in seinem bestechenden Roman Kraft einen deutschen Rhethorikprofessor mit dem Scheitern an optimistischer Welteinschätzung konfrontierte; Robert Schindels Lyrik eine feine Mischung von Lebens- und Todesbereichen bot. An beiden Abenden begeisterte der Berner Pedro Lenz, dieses Genie der Wortperformance: Er gab einen grandios mitreißenden Eindruck seiner Prosakunst, die nunmehr weit über die Schweiz hinaus Kultstatus hat. Sein Langgedicht Jahreszeit mit dem Vers "es suchen viele ein neues Zuhause" brachte Rock 'n' Roll ins alte Ambiente.

Geschichte und Geschichten

Den konkreten Eindruck von "Weinlesen" erlebte das Publikum bei den Winzern, in deren Höfen die Literatur Einzug hielt. Anna Weidenholzer brillierte im tausend Jahre alten Strasserhof, Jaroslav Rudiš beim erfrischend originellen Winzer Manni Nössing, auf dessen Terrasse einem das Eisacktal zu Füßen liegt.

Südtirol erschien dieser Sonnentage, gerade in seiner Lage, mit seiner Geschichte und im Lichte der literarischen Geschichten besonders geeignet für den großen Grenzverkehr barriereloser Verbindungen mittels Sprachkunst, begleitet von den heimischen Lese-Erzeugnissen gastfreundlicher Kellereien. Hier, in einer der reichsten Regionen des Kontinents, wird es gewiss keine Frage sein, diesem anregenden Festival in den nächsten Jahren nach wie vor die substantielle Unterstützung der Autonomen Provinz angedeihen zu lassen. Sie unterstreicht damit nicht nur ihre Position auf der Landkarte der Literatur, sondern zudem eine Absage an das Europa der Zäune. (Klaus Zeyringer, 12.6.2017)