Corbyn sprach ein emotionales Bedürfnis an, nach einer gerechteren Gesellschaft, nach besseren öffentlichen Dienstleistungen, nach weniger ökonomischer Kaltschnäuzigkeit

Foto: AFP / Justin Tallis

Die größte Fehleinschätzung von Experten und Kommentatoren vor der britischen Unterhauswahl – und ich schließe mich da selbst ein – war weniger, dass sie Theresa May überschätzt, als dass sie Jeremy Corbyn unterschätzt haben. Schon zum zweiten Mal nach Bernie Sanders – und wenn man den Franzosen Jean-Luc Mélenchon mit dazurechnet, zum dritten Mal – hat es ein Altlinker mit etwas nostalgischen wirtschaftlichen Vorstellungen geschafft, junge Wähler zu begeistern und aus der politischen Lethargie zu schütteln.

Diese Kandidaten haben letztlich nicht gewonnen, aber die politische Landschaft verändert. Ohne die Rivalität mit Sanders in den Vorwahlen hätte es Hillary Clinton gegen Donald Trump leichter gehabt; ohne Mélenchon wäre sozialistische Präsidentschaftskandidat Benoit Hamon nicht so schrecklich abgestürzt; und May hätte auch mit einem schwachen Wahlkampf ihre Mehrheit ausbauen können, wenn Corbyns Labour-Partei nicht so stark gewesen wäre.

Aus Programmen Schlüsse ziehen

Wie lässt sich diese Fehleinschätzung erklären? Warum wurde Sanders für chancenlos und Corbyn für den Totengräber der Labour-Partei gehalten? Das lag wahrscheinlich daran, dass erfahrene politische Beobachter immer noch dazu neigen, sich Programme genau anzuschauen und daraus ihre Schlüsse zu ziehen.

Und es war gerade bei Corbyn nicht das eigentliche Programm, das ihn für junge, urbane und linksliberale Wähler so attraktiv gemacht hat. Ja, der Ärger über die Sparpolitik der Tories ist groß, aber viele Briten, die bei Labour das Kreuzerl gemacht haben, wissen genau, dass Corbyns Versprechen von massiven Mehrausgaben angesichts der hohen Staatsverschuldung und der immer noch großen Defizite nicht umsetzbar sind – und dass eine breite Renationalisierungswelle privatisierter Unternehmen der britischen Wirtschaft nur schaden kann. Der letzte, der das in Europa versucht hat, war Francois Mitterrand Anfang der 1908er-Jahre in Frankreich – mit katastrophalen Folgen.

Wider die ökonomische Kaltschnäuzigkeit

Aber Corbyn sprach ein emotionales Bedürfnis an, nach einer gerechteren Gesellschaft, nach besseren öffentlichen Dienstleistungen, nach weniger ökonomischer Kaltschnäuzigkeit. Und dies hat am Wahltag gewirkt.

Wenn solche Parteien eine Wahl gewinnen und dann regieren, dann müssen diese Versprechen rasch der budgetären Realität weichen – und lassen viele enttäuschte Anhänger zurück. Das war etwa der Fall in Griechenland und Portugal.

Problem für Schulz und Kern

Diesen Wahlkampf der Gefühle kann man aus der Opposition viel leichter führen als aus einer Regierungsverantwortung heraus. Das macht es dem SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz so schwer, mit dem Thema Gerechtigkeit zu punkten. Schulz ist mehr In- als Outsider, weshalb er sich ständig der Frage nach der Umsetzbarkeit seiner Slogans stellen muss.

Und das gilt noch mehr für Bundeskanzler Christian Kern, der nicht nur selbst ein eher technokratischer Typ ist, sondern der auch bei allen seinen Versprechen an der tatsächlichen Arbeit seiner Regierung gemessen werden wird.

Yuppies stimmten gegen ihr eigenes Geld

Bei Corbyn kam noch dazu, dass niemand mit einem Wahlsieg für ihn gerechnet hat. Bei einer neuerlichen Unterhauswahl würden seine konkreten Vorschläge wohl einer strengeren Prüfung unterzogen werden – etwa von Londoner Yuppies, die Labour gegen ihre finanzielle Interessen gewählt haben, weil sie May nicht ausstehen können.

Das Corbyn-Phänomen lässt sich nicht so leicht replizieren. Aber auch bei zukünftigen Wahlen werden Beobachter stärker darauf achten müssen, ob es dezidiert linke Kandidaten gibt, die mit einer Politik der Gefühle (Copyright Josef Haslinger) Hoffnungen und Träume von Menschen ansprechen. (Eric Frey, 11.6.2017)