Wer nach Russland zieht, muss mit einer Reihe von Umstellungen fertigwerden. Eine neue Sprache, andere Kultur und Traditionen; ja, selbst das Klima ist vielerorts wesentlich rauer als an Rhein oder Donau. Eine der größten Herausforderungen für den Neuankömmling aus Europa ist aber der Verkehr in Moskau. Das hat weniger mit der geltenden Straßenverkehrsordnung als mit deren Auslegung durch die Autofahrer und der Verkehrsdichte zu tun.
Es ist nicht so, dass die Pro-Kopf-Dichte an Fahrzeugen in Moskau höher wäre als in Europa, ganz im Gegenteil. Leider ist aber das Straßennetz viel zu klein für eine Stadt mit offiziell gut zwölf Millionen Einwohnern und inoffiziell noch einigen mehr. Lediglich in den engen Metropolen Asiens ist der Anteil des Straßennetzes an der Gesamtfläche noch geringer als in Moskau. Folgerichtig kämpft die Stadt seit Jahren mit gigantischen Staus.
Gerade zur Stoßzeit, die ihren Namen wegen der Unfallhäufigkeit zu Recht trägt, geht auf den Ein- und Ausfahrtstraßen oft gar nichts mehr. Einträchtig stehen dann der schrottreife Moskwitsch und der nagelneue Mercedes nebeneinander. Gerade wer am Freitagnachmittag auf die Datscha – das bei den Russen beliebte Häuschen im Grünen – will, braucht Zeit und Nerven.
Protest mit blauen Eimern
Im Stau sind alle gleich – nur VIP-Beamte und Oligarchen mit Blaulicht sind noch gleicher. Rücksichtslos drängeln sie alles zur Seite. Nach einigen schlagzeilenträchtigen tödlichen Unfällen kam es zu Protesten; Moskauer Autofahrer rüsteten ihre Wagendächer mit blauen Kübeln aus, um ihren Unmut zu bekunden. Geändert hat das wenig.
Insgesamt kamen im vergangenen Jahr in Russland mehr als 20.000 Menschen durch Verkehrsunfälle ums Leben, weniger als noch 2015, aber mehr als sechsmal so viele wie in Deutschland. Das liegt auch am Fahrstil der Russen; nicht nur derer mit Blaulicht. Mit leichtem Schaudern erinnere ich mich an eine nächtliche Fahrt in einem Schwarztaxi in Moskau zurück, als der armenische Taxifahrer in einem klapprigen Lada durch die Straßen der russischen Hauptstadt jagte, als sei er in einem wilden Verfolgungsrennen.
"Wie in Kabul"
Meinen vergeblichen Anschnallversuch – der Sicherheitsgurt klemmte – quittierte er mit einem verächtlichen Schnaufen und dem Verweis auf die Ikonen am Armaturenbrett. In Russland vertrauen immer noch mehr Autofahrer auf den Schutz der Abbilder von Jesus, Maria und Nikolaus von Myra, dem Schutzheiligen der Reisenden, als auf Sicherheitsgurt und Airbag. Als er sich schließlich doch entschloss, vor einer roten Ampel zu bremsen, sauste rechts vom Lada ein weiterer Raser vorbei. "Wie in Kabul", kommentierte der Armenier daraufhin den Fahrstil seines Rennfahrerkollegen.
Da es ein russischer Autofahrer grundsätzlich immer eiliger hat als sein Nebenmann, sind Drängeln und Hupen an der Tagesordnung. An der Ampel muss jeder auch noch bei Gelb über die Kreuzung, und alle wundern sich dann, dass sie verstopft ist. Wer vor einer roten Ampel an der durchgezogenen Haltelinie stoppt, wird von mindestens einem Fahrzeug rechts noch überholt, das dann ganz vorn steht. Diskussionen sind in solchen Fällen zwecklos – und mitunter gefährlich, vor allem dann, wenn heißblütige Kaukasier am Steuer sitzen.
Auch außerhalb der russischen Hauptstadt haben Verkehrszeichen allenfalls empfehlenden Charakter. Generell gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h auf Russlands Fernverkehrsstraßen. Doch wer sich daran hält, gilt als Verkehrshindernis. Selbst die inzwischen überall lauernden Überwachungskameras haben eine Toleranzgrenze von 15 bis 20 km/h eingebaut. Zudem bieten russische Navi-Apps den bequemen Service, Radarfallen gleich mit anzuzeigen, sodass Raser rechtzeitig auf die Bremse treten können.
Konsequent auf der Überholspur
Eine andere Besonderheit ist das stillschweigende Linksfahrgebot auf den Fernstraßen. Egal zu welcher Tages- und Nachtzeit man unterwegs ist, immer gibt es mindestens einen Fahrer (in der Regel deutlich mehr), der konsequent auf der Überholspur fährt; auch wenn sich hinter ihm schon eine Schlange gebildet hat und rechts und vor ihm alles frei ist. Der findige Russe weiß sich in diesem Fall natürlich zu helfen – und überholt rechts. Im dichteren Verkehr wird auch gern Slalom gefahren oder der Standstreifen benutzt.
Schlechte Manieren sind ansteckend, und so erstreckt sich das riskante Fahrverhalten beileibe nicht nur auf die Russen. Die abenteuerlichste Fahrt in Russland habe ich mit einem Deutschen erlebt: Auf der Buckelpiste von St. Petersburg nach Moskau trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch, ungeachtet der an jedem Schlagloch drohenden Kopfschmerzen, wenn der Wagen die Passagiere Richtung Decke schleuderte. Zwei Katzen spazierten derweil seelenruhig im ganzen Salon herum und wurden nur kurz mit dem Fuß beiseitegeschoben, wenn sie sich Richtung Kupplung verirrten.
Eine Bremse, die nicht mehr bremst
Kurz vor Moskau, als die dreispurige Straße dicht wurde, ging es in den Slalom. Dabei eröffnete der Fahrer kurzerhand zwei neue Spuren. Eine auf der Gegenfahrbahn – trotz durchgezogener Linie. Die zweite auf der schon nicht mehr asphaltierten Strecke rechts neben dem Standstreifen, wo er einfach die Laternenmasten umkurvte. Am Ende musste er trotzdem die Geschwindigkeit senken – die Bremse fing an, ihren Dienst zu versagen. Lediglich noch mit der Handbremse ausgerüstet, kamen wir in Moskau an. Das Angebot, mich nach Hause zu fahren, habe ich dankend abgelehnt und bin an der ersten Metrostation ausgestiegen. Die Metro ist zwar mitunter überfüllt, in Moskau aber immer noch das zuverlässigste aller Verkehrsmittel. (André Ballin aus Moskau, 8.6.2017)