Nicht-Orte lassen Menschen Einsamkeit ohne Isolierung erfahren, sagt der Stadttheoretiker Marc Augé. Im Bild der Grazer Flughafen.

Foto: Flughafen Graz

Graz – Es gibt Orte, die niemand wirklich mag: Autobahnraststätten, Flughäfen und Busterminals akzeptiert man als Durchgangsstationen, aber ohne triftigen Grund geht man nur ungern dorthin. Der französische Anthropologe und Kulturtheoretiker Marc Augé bezeichnet solche Räume als Nicht-Orte. Im Unterschied zu traditionellen Orten mangle es ihnen an Identität und Geschichte. Die Menschen, die sich dort aufhalten (müssen), machen die Erfahrung von "Kollektivität ohne Fest und Einsamkeit ohne Isolierung", formuliert Augé, der mit seiner Diagnose der Nicht-Orte die stadttheoretischen Debatten der 1990er-Jahre prägte.

Während traditionelle Orte durch Ereignisse, Mythen und Geschichten mit Bedeutung aufgeladen werden, bleiben Nicht-Orte abstrakt und auf bestimmte Zwecke ausgerichtet. Durch die fortschreitende Verbauung vorhandener Flächen und die rasant wachsenden Städte entstehen diese Nicht-Orte heute teilweise unkontrolliert. Doch wie können sie zu lebenswerten Orten werden, die mehr sind als identitätslose Durchgangszonen? Dieser Frage hat sich die Architektin Sanela Pansinger in ihrer Dissertation gewidmet.

Pansinger beschäftigt sich mit einem bestimmten Typus dieser Nicht-Orte und lotet deren ungenutztes Potenzial für die Stadtentwicklung aus: den Flughafenarealen mittelgroßer Städte. Sie bringt ihre Expertise derzeit auch in ein Pilotprojekt im Rahmen der Smart-Cities-Initiative ein: "SmartAIRea Flughafen Graz" nennt sich das von Joanneum Research / Kompetenzzentrum LIFE, dem Department für Örtliche Raumplanung (IFOER) der TU Wien und der NEXT Gmbh durchgeführte Sondierungsvorhaben. Eine interdisziplinäre Forschergruppe will darin zeigen, ob und wie sich aus einem schlecht genutzten Ort nachhaltige Impulse für die räumliche Entwicklung einer Stadt und einer Region gewinnen lassen.

Mehr als ein Transitbereich

"Das Flughafenumfeld in Graz ist wie in den meisten Städten durch verstreute Gewerbe- und Industrieansiedlungen und durch einen hohen Flächenverbrauch geprägt", sagt Sanela Pansinger. "Unser Ziel ist es, diesem Ort eine nachhaltige Gestalt zu geben, damit sich die Menschen gern dort aufhalten und ihn nicht nur als Transitbereich wahrnehmen, den man nur betritt, um so schnell wie möglich woanders hinzugelangen."

Wie man sich diese "nachhaltige Gestalt" vorstellen kann? "Nachhaltig bedeutet hier, den Ort lebensfähig und resilient zu machen", so die Architektin, die viele Jahre am Institut für Städtebau der TU Graz wissenschaftlich tätig war. Lebensfähig sei ein Ort, wenn er auch nach dem Ende einer bestimmten Nutzung existieren kann. So wird das Grazer Flughafenareal heute etwa von Industrie- und Gewerbeobjekten dominiert, die durch eine sich verändernde Wirtschaftslage wieder verschwinden könnten. In diesem Fall würde der genutzte Nicht-Ort zum verwaisten Nicht-Ort. Dieses Verwaisen lasse sich aber verhindern: indem man den Ort so plant, dass er auf unterschiedliche Weise genutzt werden kann. Das gelingt etwa, indem man die Transiträume des Flughafens und der nahen S-Bahn mit Wohnsiedlungen, öffentlichen Grün-, Freizeit- und Kulturräumen, Lokalen und Gewerbebetrieben umgibt. Öffentliche Räume spielen dabei eine besondere Rolle, weil sie einerseits den Raum gestalten, andererseits Flexibilität ermöglichen: Schließt ein Betrieb, kann der ungenutzte Raum durch öffentliche Flächen rasch "aufgefüllt" werden.

Widerstandsfähige Orte

Dass solch ein Areal auch für Freizeitgestaltung genutzt wird, sei durchaus realistisch, sagt Pansinger: So sei das größte Freizeitzentrum der Grazer, die Schwarzl-Teiche, nur einen Sprung vom Flughafenareal entfernt.

Und was meinen die Forscherinnen und Forscher in ihrem Projekt mit "Nachhaltigkeit"? "Gestalterische Nachhaltigkeit macht Orte nicht nur widerstandsfähiger gegen wirtschaftliche Veränderungen, sondern verbessert auch ihre Ökobilanz", so Sanela Pansinger und Franz Prettenthaler, Leiter des Kompetenzzentrums LIFE. Vor allem könne gestalterische Nachhaltigkeit eine emotionale Verbindung der Menschen zu Orten herstellen und Letzteren so im Sinne Augés Identität und Geschichte geben.

Die Wissenschafter haben zehn unterschiedliche Konzepte ausgearbeitet, wie das Grazer Flughafenareal von einem Nicht-Ort in einen Ort für Menschen verwandelt werden könnte. Nun liegt es an den politischen Entscheidungsträgern, ob eines davon umgesetzt wird. Der "Werkzeugkasten" für eine Neugestaltung ist jedenfalls gut gefüllt und steht auch anderen Städten mit Nachhaltigkeitsambitionen zur Verfügung. Hält man sich vor Augen, wie viele Nicht-Orte unsere verbaute Umwelt prägen, wie viel Fläche diese verbrauchen und wie viel Zeit wir an diesen Orten verbringen müssen, wäre ein Umdenken in diesem Bereich zweifellos ein smartes Statement – ganz besonders im Kontext der aktuellen Smart-City-Ambitionen. (Doris Griesser, 4. 6. 2017)