Helene Klaar: "Es gibt diese Tendenz, andere zu bescheißen."

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STANDARD: Gibt es für Sie "die Wahrheit"?

Helene Klaar: Mit der Wahrheit ist es wie mit der Gerechtigkeit. Man soll sie hochhalten, man soll sich um sie bemühen – und man muss sich damit abfinden, dass man sich nur asymptotisch annähern kann. Wenn man sich bemüht, kann man 95 Prozent einer Wahrheit ergründen. Dieser Werte-Relativismus, dass es Wahrheit und Gerechtigkeit eh nicht gibt, ist mir zutiefst zuwider. Wenn ein Richter sagt: "Bei mir kriegen Sie ein Urteil, Gerechtigkeit im Himmel", dann hat der aus meiner Sicht seinen Beruf verfehlt.

STANDARD: Gibt es viele solcher Richter?

Klaar: Es gibt sie.

STANDARD: Muss das Gericht versuchen, die Wahrheit mit allen Mitteln zu ergründen?

Klaar: Das Inquisitionsprinzip gilt nur bei Strafprozessen. In Zivilprozessen herrscht die Parteienmaxime, das bedeutet, dass die Parteien vorbringen, was ihnen relevant erscheint, und das Gericht versucht, Wahrheit und Gerechtigkeit zu schöpfen aus dem, was die Parteien vorbringen. Die Parteien sind die Herren des Verfahrens. Dominus Litis heißt das auf Juristen-Latein. Das Gericht hat nicht die Aufgabe, Dinge ans Licht zu bringen, über die die Parteien gar nicht reden wollen. Der Richter kann auf möglicherweise relevante Fakten aufmerksam machen. Wenn die Parteien sie nicht vorbringen, geht ihn das nichts mehr an. Es gibt aber auch eine gerichtliche Wahrheit.

STANDARD: Was bedeutet das?

Klaar: Das Gericht generiert eine eigene Wahrheit, indem Aussagen vom Richter protokolliert werden. Das Protokoll macht vollen Beweis über das, was gesagt wurde. Wenn sich die Person nicht so gut ausdrücken kann oder missverstanden wurde und man sich gegen die unrichtige Protokollierung nicht ausspricht, dann pickt das. Im Urteil trifft der Richter Feststellungen. Wenn diese in der Instanz nicht bemängelt werden, dann ist das die neue Wahrheit – egal, was wirklich war. Das ist für viele sehr schwer, sich damit abzufinden.

STANDARD: Wenn Sie einen Scheidungsfall übernehmen: Verlangen Sie, dass Ihre Mandanten Ihnen die Wahrheit sagen?

Klaar: Unbedingt! Eine bereits verstorbene Kollegin pflegte immer zu sagen: Uns sollen die Leute die Wahrheit sagen, die Schmähs machen wir. Wenn ich einem Klienten draufkomme, dass er mich belogen hat, löse ich die Vollmacht auf.

STANDARD: Wird grundsätzlich viel gelogen in Scheidungsverfahren?

Klaar: Es wird viel gelogen, sowohl bewusst als auch unbewusst. Es gehört ja zur Zerrüttung eines Eheverhältnisses dazu, dass demjenigen, der die Ehe beenden will, die gesamte gemeinsame Vergangenheit in einem sehr schlechten Licht erscheint. Plötzlich war das Leben ein Jammertal, das Essen schlecht, die Urlaube fad und die Familienfeste quälend. Die Wahrheit ist in diesen Dingen außerordentlich subjektiv ...

STANDARD: Wird mehr gelogen, wenn es ums Geld geht oder bei der Schuldfrage?

Klaar: Am frechsten gelogen wird beim Geld. Was es da alles an Vermögen nicht gibt! Da ist dieser Datenschutz zum vermeintlichen Wohle der Eigentumsfreiheit ein Pferdefuß, übrigens auch bei Erbschaften. Da gibt es ja auch diese Tendenz, andere zu bescheißen. Und im Zivilverfahren hat man keine Möglichkeiten, Auskünfte von Banken zu verlangen. Frauen glauben oft, vor Gericht müsse ihr Noch-Ehemann dann endlich die Wahrheit sagen. Gar nichts muss er. Alles, was sie nicht rechtzeitig kopiert hat, gibt es nicht.

STANDARD: Kann man das Wahre auch strategisch erzeugen?

Klaar: Ich höre mir geduldig die Geschichten meiner Klienten an und schaue, ob das stimmig ist. Man muss prüfen, ob eine Story eine gewisse Überzeugungskraft hat. Wenn es einem Klienten nicht gelingt, mich zu überzeugen, überzeugt er oder sie vor Gericht auch nicht.

STANDARD: Wie wahrhaftig sind Sie selbst vor Gericht?

Klaar: Das steht dort überhaupt nicht zur Debatte. Ich vertrete die Interessen meiner Klienten. Punkt. Aber, wenn Sie das wissen wollen, ich bin sehr puritanisch erzogen und halte Wahrhaftigkeit, Verlässlichkeit und Treue hoch.

STANDARD: Haben Sie Bedenken, etwas vor Gericht nicht zu sagen?

Klaar: Eine Aussage vor Gericht ist keine Gewissenserforschung, und das Bezirksgericht Meidling ist nicht das Jüngste Gericht.

STANDARD: Was heißt das?

Klaar: Wenn eine Frau immer bemüht den Haushalt geführt hat, dann soll sie das vor Gericht auch so sagen. Sie muss nicht dazu sagen, dass ihre Biskuittorten immer sitzengeblieben sind. Das sehe ich noch nicht als Unwahrheit.

STANDARD: Brauchen gerade Frauen hier Unterstützung?

Klaar: Frauen neigen in ihrer ersten Verzweiflung dazu, sich selbst zu bezichtigen. Nach dem Motto: "Ich werde netter werden, schlanker, schöner, besser kochen, ich begleite dich zum Motocross, und ich weiß, ich habe auch Fehler gemacht." Das wird ihr im Verfahren dann um die Ohren gehaut. Da rate ich den Frauen schon, solche weinerlichen Vorfälle bei Gericht zu vergessen.

STANDARD: Bertolt Brecht sagte: "Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und eine Lüge nennt, ist ein Verbrecher." Ist das so?

Klaar: Das kommt mir richtig vor. Ich halte jetzt nicht unbedingt jemanden, der die Wahrheit nicht weiß, für einen Dummkopf, aber wenn jemand vor Gericht wissentlich lügt, das provoziert mich sehr. Die wenigen Male, die ich vor Gericht ausgerastet bin und jemanden ehrenbeleidigt habe, war das immer dann, wenn diese Person mir ins Gesicht gelogen hat.

STANDARD: Gibt es die wahre Liebe?

Klaar: Na sicher. Jede Liebe, die man empfindet, ist wahr in dem Augenblick. Es ist die Frage, wie lange sie dauert. (Petra Stuiber, 5.6.2017)