Im Palazzo Grassi und der Punta della Dogana feiert Damien Hirst sein Comeback. Ein bizarres Märchen um geborgene Schätze, das Besucher zwischen Abscheu und Faszination wandeln lässt.

Foto: Miguel Medina

Mit letzter Kraft erreichte die erschöpfte Arielle die Gewässer der Lagune. Ziellos ließ sie sich zum erstbesten Palazzo treiben und robbte mit schwerer Schwanzflosse an Land. Hier, im Palazzo Grassi, würde sie zur Ruhe kommen, dachte sie. Doch in der Eingangshalle erschrak sie vor einem monströsen Fuß. Er gehörte zu einem 18 Meter großen Riesen, der an allen Etagen vorbei bis zur Glasdecke des Gebäudes ragte. Sein Kopf allerdings fehlte – sie fand ihn in einem anderen Raum.

So oder so ähnlich könnte eine Nixe aus einem Disneyfilm träumen, wenn die Kinder nicht mehr zusehen. Die auf die Museen des Unternehmers François Pinault, den Palazzo Grassi und die Punta della Dogana, aufgeteilte Doppelausstellung Treasures from the Wreck of the Unbelievable des 51-jährigen Briten Damien Hirst ist eine monumentale Ansammlung von Skulpturen aus Bronze und Kunststoffen und Bildern, die man nicht so schnell aufnehmen kann, wie sie auf einen einstürzt. Eine Unterwasserwunderwelt, in der vielköpfige Schlangen mit anderen mythischen Wesen kämpfen, Frauen angreifende Haie anschreien oder ein Mädchen mit in die Höhe gereckten Säbeln angriffslustig auf den Schultern eines Bären sitzt.

Im Palazzo Grassi tut sie das in einer fast handlichen Version, die man sich im Salon eines Oligarchen gut vorstellen kann. Tatsächlich soll Hirst den Großteil der Arbeiten, an denen er zehn Jahre werkte, schon verkauft haben. In der Punta della Dogana tauchen Bär und Kriegerin wieder auf, aber mehrere Meter hoch und mit Korallen und Algen überwuchert.

Tintenfisch im Drogenrausch

Bunte maritime Wucherungen überziehen viele der Skulpturen, denn Hirst erzählt in dem gigantischen Projekt in der Stadt, die zu versinken droht, ein Märchen: jenes von versunkenen und geborgenen Schätzen. Die meisten der Arbeiten sind dafür tatsächlich versenkt und unter Wasser fotografiert und gefilmt worden. Natürlich hängen nicht einfach Fotos davon an den Wänden der prächtigen venezianischen Gebäude. Sie werden auf Screens gezeigt, die an ein 3D-Kino erinnern. Die perfekte Illusion erfordert auch jede Menge Hightech.

Hirst erschuf eine Wunderkammer, die eben keine Kammer ist, sondern aus mehreren Hallen besteht. Ihr Inhalt wäre selbst für die erwähnte, dem Kitsch nicht abgewandte Disney-Nixe ein Gruselkabinett, das sich in ihrer Welt ein Tintenfisch auf LSD ausgedacht hat. Dabei spielt der Künstler, der sich mit dem Projekt nach längerer Pause zurückmeldete, mit Archetypen und Popkultur.

Es glitzert, es funkelt, es wabert, und es wirft Schatten. Schatten, die man noch drüben in den Giardini und dem Arsenale, wo die Biennale einen Monat nach Hirsts Ausstellung eröffnet wurde, spüren muss. Wie eine bescheidene Schülerausstellung nimmt sich da einer der wichtigsten Kunstevents der Welt im unmittelbaren Vergleich aus. In Hirsts La-La-Lagunenland ist kein Platz für Reflexionen. Die Antworten werden den Besuchern in solcher Dichte und mit solcher Wucht vor die Nase geknallt, dass man sich an etwaige Fragen nicht erinnern kann.

Hirst zeigt vor, was geht, wenn Zeit und Geld keine Rolle spielen: Man baut sich die Ausstattung eines Blockbuster-Animationsfilms hin. Die Besucher schreiten hin- und hergerissen zwischen Abscheu vor überbordenden Geschmacklosigkeiten und Faszination für die perfekte, aalglatte Inszenierung dieser "Schätze" durch die Ausstellung.

Im Vorbeischwimmen

Zwischen nackten Frauenkörpern, die sich räkeln wie die Paintbrush-Fantasien eines Bikers, und Riesenmuscheln, die man unschwer als Anspielung auf das weibliche Geschlecht interpretieren kann, taucht dann auch dort und da eine lebensgroße Micky Maus an der Hand einer Skulptur auf, die wohl Walt Disney sein soll. Er könnte in diesem Kontext aber auch als Kinderverführer durchgehen. Auch auf Walt und Micky haftet die Pflanzenwelt des Ozeans in Form farbenfroher Pestbeulen. Hirst nimmt im Vorbeischwimmen zeitgenössische Kollegen auf den Arm.

Arielle aber hatte sich kaum von ihrem ersten Schock erholt, als sie auch noch Freunde wie Mogli und Balu den Bären – zwar nicht in Formaldehyd eingelegt, aber in Skulpturen erstarrt – wiedererkannte. Da floh sie, schwamm aus dem Canal Grande hinaus in Richtung Giardini, wo sie an einem kleinen ruhigen Seitenkanal aus ihrem Albtraum gespült wurde. Auf einem friedlichen grünen Rasen vor einem weißen Haus kam sie zur Ruhe. Hier muss gerade noch ein Kind gespielt haben. Ein achtlos auf die Fahrerkabine hingewordener Lkw lag noch im Gras. Harmlos sah er aus. "Erwin, Schluss mit Spielen, Essen ist fertig!", hörte Arielle da eine mütterliche Stimme rufen. (Colette M. Schmidt aus Venedig, 27.5.2017)