Benny Safdie spielt in "Good Time" neben Robert Pattinson.

Foto: Cannes

Auf jedem Großfestival kommt irgendwann der Punkt, wo das Hoffen der Filmkritik in Ungeduld umschlägt. Das lange Warten auf das Meisterwerk sorgt für säuerliche Gesichter. Da muss man schon auch einmal sagen: Leute, das ist Leiden auf hohem Niveau. Wer ständig nur dem einen Ausnahmeerlebnis auflauern will, der muss auf der Hut sein, dass er die Vielfalt an mindestens bereichernden filmischen Positionen nicht übersieht.

A24

Kurzum, auch im letzten Drittel des Wettbewerbs von Cannes finden sich Filme, über die man im Regelbetrieb gängiger Filmstarts mehr als glücklich wäre. Einer davon ist Good Time, mit dem die New Yorker Brüder Benny und Josh Safdie ihren Einstand in der Königsklasse geben. Die Safdies wenden sich nach ihren Anfängen mit hübsch gedrechselten Low-Budget-Arbeiten wie Go Get Some Rosemary nun allmählich größeren Produktionen zu, ohne ihre Sensibilität für realistische Großstadträume und eigensinnige Figuren zu verlieren.

Ausmalung der Randzonen

Good Time ist ein veristisches Straßendrama in der Tradition von New-Hollywood-Filmen wie Mean Streets oder Dog Day Afternoon. Am Anfang steht ein Banküberfall der beiden Brüder Conny und Nick, die durch ein Missgeschick bei der Flucht voneinander getrennt werden. Conny, den Twilight-Star Robert Pattinson überzeugend als ungeduldigen Hitzkopf verkörpert, fühlt sich dem psychisch beeinträchtigten, verwundbareren Nick (Benny Safdie) verpflichtet; er versucht ihn per Kaution aus dem Gefängnis herauszulösen. Doch jede Aktion führt in diesem Film nur zu neuen Kalamitäten. Die Jagd nach dem Geld ermöglicht nur flüchtige Begegnungen; sie schafft schiefe Allianzen, denen die Vertrauensbasis fehlt.

Die große Qualität dieser filmischen Tour durch eine lange Nacht liegt in der Ausmalung von Randzonen und ihren Bewohnern. Das Haus einer afroamerikanischen Familie dient als unübliches Versteck, ein heruntergekommener Vergnügungspark wird zum morbiden Ort einer Schatzsuche. Die Safdies geben szenischen Situationen gegenüber plotgetriebenen Konstruktionen den Vorzug, das lenkt den Blick auf die Intensität des Augenblicks. Die hypnotische Atmosphäre verdankt sich den engen Räumen der Kamera von Sean Price Williams und dem sehr rhythmisch gesetzten Schnitt. Gesteigert, ja verzerrt wird sie noch durch den elektronischen Score von Oneohtrix Point Never aka Daniel Lopatin, der an fröhliche Prog-Rock-Zeiten erinnert.

Kafkaeske Abläufe im Moloch

Good Time wurde in der Pressevorführung mit viel Applaus bedacht, wogegen Krotkaya (A Gentle Creature) vom Ukrainer Sergei Loznitsa nicht nur von russischer Seite Widerwille entgegenschlug. Dabei hat auch diese grimmige Erzählung um eine russische Frau, die sich zu dem Gefängnis aufmacht, in dem sie ihren Ehemann vermutet, einiges zu bieten. Der Großteil der Szenen, in denen Vasilina Makovtseva wie ein ungerührter Engel einer verdorbenen Gesellschaft gegenübertritt, sind famos orchestrierte Plansequenzen, mithin ohne Schnitte (Kamera: Oleg Mutu) gehalten.

The Upcoming

Bis die Fremde überhaupt wahrgenommen wird in diesem Moloch, vergehen mitunter Minuten mit teils grotesken Abläufen einer kafkaesken Bürokratie. Großartig etwa die Szene, in der mitgebrachte Lebensmittel für Gefangene von Beamten durchbohrt, zerschnitten und zermatscht werden, bevor man sie missmutig weiterreicht.

Die Beharrlichkeit der Frau ist jedoch ähnlich groß wie auf der anderen Seite die Bereitschaft zu Korruption oder zu eruptiver Gewalt. Einmal steht sie so lange stumm und unbeweglich vor den Gefängnistoren, bis man sie abtransportiert. In dieser Geste, die auf einem letzten Akt der Menschlichkeit besteht, steckt auch eine politische Idee. Loznitsas Sittenbild einer Weltmacht wirkt nur dann übertrieben, wenn man dieses Lied auf die Unbeugsamkeit überhört. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes, 25.5.2017)