Irgendwo zwischen 2500 und 3000 Metern Seehöhe finde ich, was ich sehnlichst misste: Sonnenschein, klare Luft und strahlend blauen Himmel. Ich hatte Kirgistan vor knapp zwei Wochen Richtung China verlassen und schon fast vergessen, wie sich das anfühlt. Der chinesische Smog hatte meine Befürchtungen noch weit übertroffen, Fahrzeuge und Gebäude entlang der Straße verschwanden einfach im Grau.

Ich war per Anhalter Richtung tibetanisches Hochplateau unterwegs. Das funktioniert für so exotische Ausländer wie mich im westlichen, weniger dicht bevölkerten Teil Chinas ausgezeichnet. Die Menschen sind äußerst hilfsbereit und gastfreundlich, obwohl die Sprachbarriere meist unüberwindlich ist. Aber manchmal klappt es doch. Und dann sitze ich bei einer englischsprachigen Reiseführerin und ihrem Chauffeur im Auto. Wie so oft wird mir ein kleiner Snack und etwas zu trinken angeboten. Ein Energy-Drink einer österreichischen Weltmarke scheint im chinesischen Hochland populärer zu sein als Cola.

Foto: Christoph Bachmair
Foto: Christoph Bachmair

Verfolgung in Huatugou

Wir fahren durch die Berge von Xinjiang in die Nachbarprovinz Qinghai. Tagesziel ist die Stadt Huatugou, die so wirkt, als wäre sie vor kurzem weitgehend neu aus dem Boden gestampft worden. Da abends weder ein Sammeltaxi noch ein Bus zu meiner nächsten Destination fährt, überlege ich, in der Busstation mein Zelt aufzubauen. Der diensthabende Schalterbeamte signalisiert aber, dass die Behörden das nicht erlauben würden. Da die Hauptverkehrsroute circa 20 Gehminuten entfernt ist, erscheint es mir ohnehin zeitsparender, noch abends dorthin zurückzukehren.

Nach dem Abendessen in einem kleinen Restaurant neben der Busstation kommen plötzlich acht chinesische Polizisten auf mich zu. Einer nach dem anderen kontrolliert meinen Reisepass. Manche sprechen aufgeregt in ihr Mobiltelefon, um meine Daten weiterzuleiten. In der Nähe der Provinz Tibet werden Ausländer genau überprüft. Alle sind sehr freundlich, viele wollen meine Hand schütteln. Dann weisen mir zwei Polizisten einen nun scheinbar offiziell genehmigten Zeltplatz in der Wartehalle zu. Ein nette Geste – wohl ein Bonus für Europäer. Aber ich hatte mich ja bereits entschieden, zur Hauptroute zurückzukehren.

Ich verabschiedet mich von den nun ratlos blickenden Polizisten und marschiere mit meinem großen Rucksack los. Nach wenigen Minuten sehe ich rotblaue Lichter auftauchen. Ein Polizeiauto fährt im Schritttempo konstant mit einigen Metern Sicherheitsabstand hinter mir her. Niemand versucht mich zu stoppen, niemand ruft mir etwas zu, keine Sirenen. Die Straße ist menschenleer. Nur ich und das Polizeiauto.

Doch auf einmal überholt mich ein gepanzertes Polizeifahrzeug, bleibt vor mir stehen. Eine Tür wird hochgeklappt. Die Reiseführerin mit der ich hergekommen war, springt heraus. Sie fragt mich, warum ich nicht in der Bushaltestelle campieren wollte. Ich erkläre mein Vorhaben. Der Polizeichef erklärt, dass außerhalb der Stadt Wölfe sein könnten. Wohl eine vorgeschobene Begründung. Ich lächle ihn an und sage, dass ich keine Angst vor Wölfen hätte. Er lächelt zurück und sagt, dass aber vielleicht die Wölfe Angst vor mir hätten – eine Replik von fast konfuzianischer Weisheit. Ich gebe mich geschlagen und campiere in der Busstation. Kurz nach fünf Uhr morgens breche ich wieder auf. Diesmal stoppt mich niemand in den leeren Straßen der fast völlig dunklen Stadt, auch einen beleuchteten Polizeicontainer kann ich ungehindert passieren und bald darauf geht meine Reise auf vier Rädern weiter.

Foto: Christoph Bachmair
Foto: Christoph Bachmair
Foto: Christoph Bachmair

Über weitere Zwischenstopps in den Städten Dunhuang und Xining, nähere ich mich schließlich meinen eigentlichen Zielen, einigen buddhistischen Klöstern im Hochland der Provinz Sichuan. Über den mehr als 5000 Meter hohen Chola-Pass mit beeindruckendem Panorama, erreicht man das Kloster Dege, eine der heiligsten Stätten des tibetanischen Buddhismus. Dort kann man in noch sanft touristischem Umfeld eine alte Bücherei mit tausenden Schriften aus allen Schulen des Buddhismus bewundern und den Mönchen beim traditionellen Drucken von Schriftrollen zusehen. Nur ein paar Gehminuten entfernt, am zentralen Markt, sind kaum noch Touristen anzutreffen. Fleisch wird dort auf etwas archaisch anmutende Art und Weise verkauft. Auf einer Plastikplane am Boden liegen riesige Rinderstücke – eine blutige Angelegenheit. Herumlaufende Hunde lecken das Blut vom Boden.

Von Dege wird die Weiterreise schwieriger, die Straße ist kaum noch befahren und auch regelmäßig für Ausländer gesperrt. Das heißt, langfristig im Voraus planen, funktioniert hier nicht. Und das ist gut so. Massentourismus würde die Traditionen so wie an vielen anderen Orten der Welt nachhaltig schädigen. Am aussichtsreichsten ist es – mit viel Zeit ausgerüstet – autostoppend voranzukommen. Mein nächstes Ziel ist das in einem Seitental auf circa 4000 Meter gelegene Yarchen Gar, das mehr als 10.000 buddhistischer Mönche beherbergt.

Foto: Christoph Bachmair

Die Nächte sind kalt, die Temperatur sinkt regelmäßig unter den Gefrierpunkt, mit Zelt und Schlafsack unterwegs, muss man bereit sein, hin und wieder seine Komfortzone zu verlassen. Aber die Entschädigung ist großartig: Kurz nach Sonnenaufgang blicke ich von einem Hügel auf das sich entlang eines Flusses ausdehnende Yarchen Gar, optisch eine Art buddhistisches Manhattan. Ein atemberaubender Anblick.

Foto: Christoph bachmair
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Im Paradies

Tenzin, eine junge Nonne, die aus Nepal hierher kam, und des Englischen mächtig ist, spricht mich an. Sie lacht viel und erzählt, dass sie hier mehrere "Boyfriends" hätte. Dann schenkt sie mir einen Apfel. Unweigerlich muss ich an diesem surrealen, buddhistischen Ort an die Bibelszene im Paradies denken. Danach zeigt mir Tenzin den Meditationstempel und wir spazieren an den von der Morgensonne gewärmten privaten Meditationsboxen vorbei durch die Kleinstadt. Auch ihre kleine Wohnhütte, die sie mit ihrer Schwester teilt, darf ich besichtigen. Die Atmosphäre ist sehr entspannt und kaum jemand schenkt meiner Anwesenheit Beachtung, obwohl Europäer hier eine Seltenheit sind – selbst chinesische Touristen trifft man nicht allzu viele. Nach einem kurzen Snack, einem lokalen Gericht aus dicken Nudeln mit scharfer Sauce, geht es weiter in die Stadt Ganzi.

Foto: Christoph Bachmair
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Autostoppen bietet die Gelegenheit, mit englischsprachigen Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Auch über den China-Tibet-Konflikt. Während die meisten Europäer China als Besatzer von Tibet betrachten, stellt sich die Situation vor Ort als viel kontroversieller dar. Manche ethnischen Tibeter wünschen sich mehr Unabhängigkeit und schimpfen über die Regierung in Peking und die Menschenrechtsverletzungen, andere freuen sich, dass China moderne Infrastruktur gebracht hat und finden auch nicht, dass eine allzu starke Repression herrscht.

Als letztes Highlight meiner Reise durch das tibetanische Kulturgebiet besuche ich die buddhistische Ansiedlung Larung Gar, ebenfalls auf circa 4000 Meter gelegen. Diese ist noch deutlich größer als Yarchen Gar, auch wenn von den gut 40.000 Menschen nicht alle Mönche sind. Schon der erste Eindruck ist überwältigend: ein enges Tal in dem kleine rötliche Holzhäuser dicht aneinander gepackt an steilen Berghängen gebaut sind. Das Zentrum bilden mehrere große Tempelanlagen, in denen Mönche gemeinsam beten und meditieren. Die Atmosphäre an diesem abgeschiedenen, friedlichen Ort ist unvergesslich.

Foto: Christoph bachmair
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Etwas außerhalb der buddhistischen Ansiedlung betrete ich abends ein kleines Restaurant. Eine Gruppe von chinesischen Touristen hat die meisten der kleinen Tische besetzt, es geht laut und lustig zur Sache. Viele verschiedene Speisen stehen auf den Tischen. Ich bin unschlüssig, was ich bestellen soll. Kein Problem in China. Nicht zum ersten Mal werden mir spontan Löffel oder Stäbchen mit unterschiedlichen Spezialitäten entgegengehalten und ich darf mich durchkosten. Ein schöner Ausklang eines Trips durch das Hochland der Provinzen Xinjiang, Qinghai und Sichuan, denn keine 24 Stunden später sollte ich wieder vom Smog umhüllt sein. (Christoph Bachmair, 21.5.2017)