Jean-Claude Juncker stellt Anfang des Jahres seine Zukunftsvision für die Union vor. Vielen gilt der Kommissionspräsident als zu technokratisch, den Sinn für das Machbare spricht ihm indes niemand ab.

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Die EU-Kommission hat kürzlich Szenarien für die Zukunft der Union vorgestellt. Das wahrscheinlichste darunter heißt: differenzierte Integration. Früher nannte man das "Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten". Aber in den Euro- und Flüchtlingskrisen sind so tiefe Bruchlinien zwischen Mitgliedsstaaten sichtbar geworden, dass es derzeit nicht mehr nach einem Rennen aussieht, bei dem alle Staaten zu unterschiedlichen Zeitpunkten dieselbe Ziellinie überqueren werden.

Was bleibt dann als Quelle der Einheit in einem Europa à la carte? Eine Antwort darauf lautet: die politische Union. Alle Mitgliedsstaaten und nur diese sind im Rat vertreten, nur Mitgliedsstaaten nominieren Kommissare, nur die Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten wählen das Europaparlament. In den politischen Institutionen der Union sind die Staaten und Bürger gleichberechtigt an jener europäischen Gesetzgebung beteiligt, die sie alle in gleicher Weise bindet.

Wenn es die politische Union ist, welche die Mitgliedsstaaten vereint, dann sollte es die Unionsbürgerschaft sein, welche die Europäer als individuelle Mitglieder des europäischen Gemeinwesens vereint. Aber ist die Unionsbürgerschaft stark genug, um "Einheit in Vielfalt" in einer zunehmend differenzierten EU zu gewährleisten?

Potenziell ja, weil die EU-Bürgerschaft dafür adäquat konstruiert wurde. Wie in einem Bundesstaat gibt es zwei Ebenen der Bürgerschaft, aber die Zugehörigkeit zur Union wird von jener zu den Gliedstaaten abgeleitet statt umgekehrt. Die Union ist sozusagen eine auf den Kopf gestellte Föderation, bei der die Staatsbürgerschaft der Mitgliedsstaaten obenauf liegt und jene der Union darunter. Dieses Modell taugt auch für eine Gemeinschaft, die auf Dauer durch überlappende Integrationsregime strukturiert ist. Und es passt für eine Union von Staaten, die nicht bereit sind, auf ihre Unabhängigkeit als Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft zu verzichten, die sie als Gliedstaaten einer Föderation aufgeben müssten.

Die Architektur ist tragfähig, aber ist das Baumaterial gut genug? Es gibt Gründe, das zu bezweifeln. EU-Bürgerschaft bedeutet vor allem das Recht auf Freizügigkeit und Nichtdiskriminierung in allen anderen Mitgliedsstaaten. Das ist eine große Errungenschaft, aber Europa ist zunehmend sozial gespalten in jene, für die Mobilität Chancen bedeutet, und jene, die sich ganz wörtlich zurückgelassen fühlen.

Was fehlt, ist erstens eine soziale Dimension der Unionsbürgerschaft. Juncker hat Ende April seinen Plan für eine "sozialrechtliche Säule" vorgestellt, aber offengelassen, ob diese nun die Eurozone stützen oder als Element der Unionsbürgerschaft für alle Mitgliedsstaaten gelten soll. Europäische Mindestlöhne und -einkommen nur für die Eurostaaten würden die Angst vor Sozialdumping durch Personenfreizügigkeit aus den anderen Staaten weiter verstärken.

Was fehlt, sind zweitens Unionsbürgerpflichten. Die Bürger werden von ihren Staaten besteuert, die wiederum Beiträge an die EU zahlen. Dadurch vergrößert sich die Distanz zwischen den Bürgern und der europäischen Regierung. Eine direkte europäische Einkommenssteuer würde das politische Interesse an der EU-Gesetzgebung erhöhen, die Bildung europäischer Parteien begünstigen und den Streit um die Beiträge der Mitgliedsstaaten entschärfen.

Drittens darf sich jene Freiheit, die durch die Unionsbürgerschaft gesichert wird, nicht nur auf Personenfreizügigkeit beschränken. Die Union muss auch als Garant für jene Freiheiten eintreten, welche die demokratischen Verfassungen der Mitgliedsstaaten gewährleisten. Diese Freiheiten werden gefährdet, wenn Populisten an die Macht kommen.

Die Kommission und das Europaparlament haben immerhin das Problem erkannt. Gegen Viktor Orbáns Gesetz zur Schließung der Central European University wurde am 26. April ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet; gegen Jaroslaw Kaczynskis Knebelung der Justiz könnte sogar die "Atomwaffe" einer Suspendierung des Stimmrechts Polens im Rat zum Einsatz kommen. Das Problem mit diesen Instrumenten ist erstens, dass Populisten an der Macht offenen Rechtsbruch vermeiden und trotzdem ihre politische Ziele erreichen können, indem sie den politischen Diskurs vergiften, ihre Gegner mit scheinbar neutralen Gesetzen gezielt ausschalten, oder sich autoritäre Politik durch Plebiszite demokratisch legitimieren lassen. Zweitens sind Gegenreaktionen aus "Brüssel" auch Teil des politischen Kalküls der Populisten, weil sie sich dann als Opfer und Verteidiger der nationalen Souveränität und ihre politischen Gegner als Handlanger der Feinde im Ausland darstellen können.

Das sind keine Argumente gegen europäische Sanktionen, sondern für die Mobilisierung der Zivilgesellschaft gegen den Demokratieabbau. In den jüngsten Wahlen in Österreich, den Niederlanden und Frankreich waren Fragen der europäischen Integration und demokratischer Werte entscheidend. Die Populisten wurden an der Urne geschlagen, weil neue soziale Bewegungen jenseits der etablierten Parteien entstanden, die ihre europäische Bürgerschaft praktiziert haben, indem sie für ein demokratisches und geeintes Europa mobilisierten.

"Einheit in Vielfalt" ist nicht nur Motto der EU, sondern auch eine Auffassung der Demokratie, die der populistischen diametral entgegensteht. Demokratie ist die einzige Regierungsform, die in vielfältigen Gesellschaften von allen als legitim anerkannt werden kann. In allen europäischen Gesellschaften gibt es tiefe Konflikte zwischen divergierenden Interessen, Ideen und Identitäten. Das ist die elementare Wahrheit, die von Populisten geleugnet wird. Sie appellieren an das Volk im Singular, das von einer einzigen Partei oder Person vertreten wird.

Die Alternative zu dieser populistischen Verzerrung ist eine pluralistische Auffassung der Demokratie, in der jene, die sich in ihren Interessen, Ideen und Identitäten unterscheiden, einander dennoch als gleichberechtigte Bürger eines politischen Gemeinwesens respektieren. Diversität in der EU ist jedoch noch viel tiefer als in ihren Mitgliedsstaaten. Die Bürger Europas sind nicht unter einer gemeinsamen Bundesregierung vereint. Zur individuellen Vielfalt der Interessen, Ideen und Identitäten kommen die Vielfalt der demokratischen Verfassungen in Europa und – in einem Europa à la carte – auch noch unterschiedliche Grade der Integration in die Union.

Diversität ist daher die Existenzbedingung der europäischen Demokratie und Einheit ist ihr Ziel, nicht ihr Ausgangspunkt. Das Motto der Union verpflichtet sie, diese Auffassung der Demokratie zu verteidigen. (Rainer Bauböck, 15.5.2017)