Radikale Alternative zu Ziegel und Beton: Anna Heringers Jugendherberge im chinesischen Baoxi besteht zur Gänze aus Bambus und Lehm.

Foto: Julien Lanoo

Die Unesco-Honorarprofessorin für Lehmbau, Anna Heringer, bei der Arbeit.

Foto: NGF

In der 51. Minute springt plötzlich das Rüttelgerät an. Ohrenbetäubender Lärm macht sich im Kinosaal breit. Anna Heringer, eine schlanke Gestalt mit Salzburger Dialekt, Muckis an den Oberarmen, Arbeitsschuhen, zerrissenen Jeans und um die Hüfte geknotetem Pulli, stopft den patzigen, noch feuchten Lehm in die Schalung. Erst wird die Stampflehmwand mit der Maschine verdichtet, später dann noch einmal manuell mit Rüttelstangen nachgestochen.

"Wenn wir so weitertun, wie wir tun, dann sind die Ressourcen bald einmal zu Ende", sagt Heringer vor der Kamera. "China zum Beispiel hat in den letzten drei Jahren so viel Zement und Beton verbraucht wie die USA im ganzen 20. Jahrhundert. Das sind Dimensionen, die man sich nur schwer vorstellen kann." Mit den Sand- und Schottermafias, wie sie beispielsweise in China, Indien und den Vereinigten Arabischen Emiraten tätig sind, hat sich zuletzt sogar ein eigener Berufszweig etabliert, der unentwegt auf der Suche nach chemisch passenden Zuschlagstoffen für die Betonindustrie ist. Und diese werden immer rarer. Damit, so Heringer, müsse man sich dringend befassen.

Geyrhalterfilm

Die 40-jährige Architektin ist eine von insgesamt sechs Personen, die im soeben angelaufenen Dokumentarfilm Die Zukunft ist besser als ihr Ruf in all ihrem Tun und Machen porträtiert werden. Gezeigt werden Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit, für partizipative Demokratie, für innovative wirtschaftliche Denkmodelle sowie für nachhaltige Lösungen in der Gastronomie und Lebensmittelversorgung engagieren. Der größte gemeinsame Nenner der Protagonisten ist der Glaube und die Überzeugung, den Lauf der Dinge selbst mitgestalten zu können. Die Salzburger Spezialistin für Lehmbau und lokale Rohstoffe ist damit in bester Gesellschaft.

Prominent ignoriert

Ein paar Wasserbüffel, vier Bohrmaschinen, Bambus aus den umliegenden Hainen und der buchstäbliche Dreck unter den Füßen – mit diesen Ressourcen hat Anna Heringer vor 13 Jahren ihr allererstes Projekt realisiert. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Eike Roswag und einem Dutzend Handwerker aus dem Dorf hat sie in Rudrapur, Bangladesch, eine 500 Quadratmeter große Schule aus Lehm hochgezogen. Das Projekt wurde unter anderem mit dem Aga Khan Award, einem der renommiertesten und höchstdotierten Architekturpreise der Welt, ausgezeichnet.

"Fast drei Milliarden Menschen auf der Welt leben in Lehmbauten", sagt Heringer im Gespräch mit dem Standard. "Hauptsächlich sind dies Menschen in Entwicklungsländern beziehungsweise Menschen aus unteren sozialen Schichten. Aus diesem Grund ist dieser – älteste – Baustoff der Welt leider stark stigmatisiert. Er wird prominent ignoriert. Und das ist in sozialer, ökologischer und auch wirtschaftlicher Hinsicht ziemlich tragisch."

Im Gegensatz zu Lehm nämlich, sagt Heringer, die an der Kunstuniversität studiert hat und mittlerweile als Unesco-Honorarprofessorin für Lehmbau, Konstruktionskultur und nachhaltige Entwicklung tätig ist, seien die imagemäßig höher situierten und somit häufig angestrebten Baustoffe Ziegel und Beton in der Produktion deutlich energie-, rohstoff- und CO2-intensiver. Doch dieses Argument wird von der globalen Baustoffindustrie und ihren potenten Lobbys massiv überschattet. Die in Bollywood produzierte Traumwelt der Reichen und Schönen tut ihr Übriges.

Ein Beitrag zur lokalen Wertschöpfung

54. Minute. Anna Heringer wandert über die Baustelle. Greift mit der Hand in die Erde hinein. Zerreibt das Material zu kleinen klebrigen Brocken. "Der eigene Hausbau ist für jede Familie die größte Investition in ihrem Leben. Und das ist ein Potenzial. Das Budget kann man so anwenden, dass irgendwelche Großfirmen davon profitieren, oder man kann es so anwenden, dass möglichst viele Menschen im eigenen Umfeld profitieren. Wenn man das im Kopf behält, dann ist es möglich, mit Architektur viel Veränderung zu bewirken."

So wie zum Beispiel in Baoxi, Ostchina, rund 400 Kilometer südwestlich von Schanghai. Erst kürzlich stellte Heringer dort im Rahmen der Longquan International Biennale eine Jugendherberge aus Lehm und Bambus fertig. Die drei Bambushäuser, die wie überdimensionale Reiskörbe in der Landschaft stehen, sind nicht nur eine Anknüpfung an die Bautradition der Region, sondern auch ein Beitrag zur lokalen Wertschöpfung. Im Inneren der bis zu 18 Meter hohen Bambushüllen verbergen sich mehrgeschossige zylindrische Lehmtürme. Über eine Wendeltreppe gelangt man direkt zu den Schlafkojen, die wie stoffverkleidete Waben an der Lehmfassade hängen.

Reichhaltige Tradition für Lehm- und Bambusbau

"Es gibt in China eine sehr reichhaltige Tradition für Lehm- und Bambusbau", so Heringer. "Die Longquan International Biennale soll dazu beitragen, diese Kultur zu erhalten und in die Zukunft weiterzutragen. Und ich denke, das macht sie mit Erfolg. Mittlerweile kommen viele Schüler, Studierende und Architekten nach Baoxi, um die Bauten zu besichtigen und zu studieren." Und auch, um in einer der hängenden Schlafkojen, die sich im Land längst herumgesprochen haben, zu übernachten.

Langfristig, so der Plan der Architektin und der Biennale-Initiatoren, soll in Baoxi die Lehmbau- und Korbflechtkunst zelebriert werden. Und zwar auf eine Art und Weise, die sicherstellt, dass die damit eingenommenen Gelder in der Region bleiben. 57. Minute: "Man kann etwas Schönes bauen und damit gleichzeitig die lokale Wirtschaft ankurbeln und das Image von lokalen Baumaterialien verbessern. Das macht Mut und stärkt das Selbstvertrauen. Das ist Wertschöpfung in ihrer menschlichsten Form."

Anna Heringer sitzt in ihrem Studio im Salzburger Oberndorf, direkt an der österreichisch-bayrischen Grenze, drei Gehminuten von der Salzach entfernt. Sie nimmt ein Tonmodell zur Hand, drückt mit dem Finger in die Oberfläche hinein. "Ich will kompostierbare Architektur schaffen", sagt sie mit strahlenden Augen. "Wenn ein Gebäude nicht mehr gebraucht wird, kann es wieder in die Erde zurück. Von der Idee, dass meine Häuser bis in die Ewigkeit stehen, habe ich mich schon lange verabschiedet. So wichtig sind wir nicht." (Wojciech Czaja, 13.5.2017)