"Falls Sebastian Kurz nicht bereit ist, das Amt des Parteiobmanns wahrzunehmen, würde das ein absolutes Chaos in der ÖVP bedeuten", sagt Politikwissenschaftler Fritz Plasser.

Foto: Uni Innsbruck / Celia di Paul

STANDARD: Sebastian Kurz, der als logischer Nachfolger Reinhold Mitterlehners als ÖVP-Chef gilt, hat noch am Dienstag gesagt, er stehe für den Job derzeit nicht zur Verfügung. Bringt ihn Mitterlehners Rücktritt jetzt unter Zugzwang?

Plasser: Falls Sebastian Kurz nicht bereit ist, das Amt des Parteiobmanns wahrzunehmen, würde das ein absolutes Chaos in der ÖVP bedeuten. Ich gehe doch mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit davon aus, dass er es tun wird. Das Problem sind hier die Bedingungen, die Kurz dafür offenbar schon gestellt hat – und ob die Machtzentren innerhalb der Partei bereit sind nachzugeben.

STANDARD: Hat Mitterlehner mit dem Zeitpunkt seines Rücktritts den Außenminister auf dem falschen Fuß erwischt?

Plasser: Es hat zwei Optionen für den Rücktritt gegeben: erstens, die konsensuale – das wäre die erwünschte Option gewesen. Zweitens, in Zorn, Konflikt, Frustration mit durchaus aggressiven Komponenten. Exakt diese Situation ist eingetreten, was auf eine unglaubliche Verletzung Mitterlehners zurückzuführen ist. Anders lässt sich das nicht erklären. Ich gehe davon aus, dass das Kurz' Start – wenn er die Partei übernimmt – überschatten wird.

STANDARD: War das eine Revanche an der Partei, dass Mitterlehner diesen Rücktritt so gestaltet hat?

Plasser: Wir können über die persönlichen Motive Mitterlehners nur spekulieren. Aber aus der Außensicht werden es zwei Faktoren gewesen sein: Das Gefühl der Verwundung, die tief in die persönliche Integrität Mitterlehners gegangen ist – das ist nachvollziehbar. Der zweite Faktor ist eine dunkle Konstante in der Geschichte der Führungswechsel der ÖVP, dass der, der geht, als Verletzter die Arena verlässt. Er musste erkennen, dass die innerparteiliche Unterstützung, die er vorausgesetzt hat, nur eine formelhafte und er in Wahrheit längst abgeschrieben war. Das war unglaublich schmerzhaft für Mitterlehner.

STANDARD: Muss Kurz jetzt – falls er die Partei übernimmt – in Neuwahlen gehen?

Plasser: Er muss es – aus taktischen Gründen. Wenn er die Partei übernimmt, rechne ich mit Wahlen im September 2017.

STANDARD: Warum?

Plasser: Es wäre strategisch extrem unklug, als Vizekanzler den vergeblichen Versuch zu unternehmen, in diese Koalition neuen Schwung zu bringen. Das ist nicht mehr möglich. Kurz' Startkapital wäre verbraucht, und er ginge bei Herbstwahlen 2018 bereits als von innerkoalitionären Streits gezeichneter Kanzlerkandidat ins Rennen gegen einen Regierungschef Kern, der seit Monaten sehr, sehr zielstrebig an der Profilierung seiner Rolle arbeitet.

STANDARD: Mitterlehner attestierte der ÖVP ein strukturelles Problem. Sie auch?

Plasser: Der Handlungsspielraum eines Parteiobmanns ist stark eingeschränkt. Es gilt hier, viele innerparteiliche Koalitionen einzugehen, um eine nennenswerte strategische Positionierung vorzunehmen. Jeder gescheiterte Versuch, gegen diesen Widerstand etwas durchzusetzen, schwächt die Autorität eines Obmanns.

STANDARD: Kann ein neuer Obmann dieses Problem lösen?

Plasser: Nicht final. Er kann – ich gehe davon aus, dass Kurz das versuchen wird – Garantien für bestimmte Spielräume von den Machtzentren der Partei einfordern. Aber gänzlich ist dieses strukturelle Problem nicht lösbar, denn es ist – positiv betrachtet – die Genese der ÖVP. Sie ist eben eine sehr komplex zusammengesetzte Koalition von unterschiedlichen Interessen. (Sebastian Fellner, 10.5.2017)