Der Soziologe Joachim Allgaier würde sich wünschen, dass die Leute das Internet mehr als Werkzeug wahrnehmen und weniger als Lebensraum.

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"Das soziale Potenzial des Internets liegt darin, dass Leute sich vernetzen und freie Meinungsäußerung betreiben können."

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Graz – Um soziale Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie zu diskutieren, findet in Graz jährlich die Konferenz der Science, Technology and Society Studies (STS) statt. Das Leitthema der aktuellen Tagung Anfang dieser Woche: soziale Gerechtigkeit. Veranstalter sind das STS-Institut der Alpen-Adria-Universität, das Interuniversitäre Forschungszentrum für Technik, Arbeit und Kultur (IFZ) der TU Graz und das Institute for Advanced Studies on Science, Technology and Society (IAS-STS). Der Wissenschaftsforscher Joachim Allgaier hielt den Eröffnungsvortrag.

STANDARD: Sie erforschen, wie die Internetnutzung zu sozialer Gerechtigkeit beitragen kann – wie kann das gelingen?

Allgaier: Das soziale Potenzial des Internets liegt darin, dass Leute sich vernetzen und freie Meinungsäußerung betreiben können, Prozesse können transparenter gestaltet werden – zumindest theoretisch, wenn das Internet als technische Infrastruktur frei wäre. Praktisch ist das allerdings nur mehr in einem kleinen Teil des Netzes weltweit der Fall: In nicht einmal jedem dritten Land können Menschen über das Netz freie politische Teilnahme betreiben.

STANDARD: Aus dem Report "Freedom on the Net" geht hervor, dass der freie Zugang zum Internet 2016 das sechste Jahr in Folge abgenommen hat. Was sind die Gründe?

Allgaier: Autoritäre Regime erkennen zunehmend den Nutzen davon, restriktiv mit dem Internet umzugehen. Nach dem "Freedom on the Net"-Report ist China eines der Länder, die die restriktivste Internetpolitik betreiben. Dort gibt es etwa Alternativen zu Youtube oder Facebook, die von den staatlichen Behörden sehr eng begleitet werden. Dieser Trend weitet sich weltweit immer mehr aus.

STANDARD: Ist es eine Frage der Zeit, bis Zensierungen umgangen werden, oder wird immer stärker zensiert werden?

Allgaier: Zukunftsprognosen sind dabei schwierig, aber teilweise gibt es jetzt schon ein Katz-und-Maus-Spiel: Zu autoritären Verfestigungen gibt es Gegenbewegungen wie Hackerorganisationen. Durch die Snowden-Enthüllungen ist deutlich geworden, dass wir alle potenziell überwacht werden – das aber kaum jemandem etwas auszumachen scheint. Es gäbe Möglichkeiten, sich sicherer im Internet zu bewegen, aber der Durchschnittsuser ist dafür zu bequem.

STANDARD: Wird der freie Zugang zum Internet nur durch politische Regime zensiert, oder gibt es auch weitere Einschränkungen?

Allgaier: Wir haben in den letzten Jahren eine extreme Kommerzialisierung des Internets durch globale Konzerne wie Facebook erlebt. Facebook hat kürzlich auch die Initiative internet.org gestartet, um Menschen in Afrika kostenlosen Internetzugang zu ermöglichen – aber nur eingeschränkt.

STANDARD: Sprich: ein Internetzugang, um Facebook zu nutzen?

Allgaier: Das ist der Gedanke, der naheliegt: Sie machen das nur, um mehr User in ihr Netzwerk zu holen, nicht, um den Menschen freies Internet zur Verfügung zu stellen. Das sind besorgniserregende Entwicklungen.

STANDARD: internet.org wirbt mit dem Slogan "The more we connect, the better it gets". Warum überzeugt Sie das nicht?

Allgaier: Die Frage ist: Wer profitiert von der Vernetzung – Facebook oder die User? Es ist eine Art von Zensur, wenn Großkonzerne eine limitierte Version des Internets vorgeben. Wenn es stimmt, was Medien wie die "New York Times" berichten, hat Facebook vergangenen Herbst China von sich aus angeboten, eine Facebook-Version mit Zensurinstrumenten zu entwickeln, um das soziale Netzwerk auch dort zugänglich machen zu können. Unter diesen Umständen tue ich mir sehr schwer mit Slogans wie "The more we connect, the better it gets".

STANDARD: Welche weiteren sozialen Folgen hat das Netz?

Allgaier: Eine wichtige Konsequenz der Internetnutzung betrifft die Umwelt. Da eine große physische Infrastruktur hinter dem Internet steckt, wird sehr viel Energie verbraucht, was zum Klimawandel beiträgt. Die Konsequenzen des Klimawandels treffen aber meist nicht die Leute, die diese Emissionen verursachen, sondern vor allem Menschen in anderen Teilen der Welt, die teilweise nicht einmal ans Internet angeschlossen sind. Das ist eine globale Ungerechtigkeit, deren man sich bewusst werden muss.

STANDARD: Sollte diese Bewusstwerdung zu einem anderen Internetverhalten beitragen?

Allgaier: Ich würde mir wünschen, dass die Leute das Internet mehr als Werkzeug wahrnehmen und weniger als Lebensraum. Die Generation der Digital Natives bemerkt das Internet nicht mehr – es ist für sie etwas, was immer da ist. Offline zu sein wird in einigen Jahren gar nicht mehr vorstellbar sein oder als ein ganz exotischer Zustand gelten.

STANDARD: Aus einem Bericht der International Telecommunication Union (siehe Grafik) geht hervor, dass 2016 53 Prozent der Weltbevölkerung das Internet nicht nutzten, gleichzeitig aber über 84 Prozent der Menschen in Regionen leben, in denen mobiles Breitbandinternet verfügbar ist. Woran liegt das?

Allgaier: In den vergangenen Jahren wurde in den mobilen Breitbandbereich sehr viel investiert. Doch man kann sehen, dass es bei der Nutzung riesige Unterschiede gibt – etwa nach Ethnien, Bildung oder Einkommen. In weniger entwickelten Ländern können es sich viele Menschen schlicht nicht leisten, online zu sein.

STANDARD: Weltweit nutzen mehr Männer als Frauen das Internet – warum?

Allgaier: In vielen Regionen der Welt haben die Männer immer noch den Daumen auf technischen Geräten. Sie versuchen, den Frauen das Internet vorzuenthalten, damit diese sich nicht vernetzen und auf die Informationen, die der Mann liefert, angewiesen sind.

STANDARD: Welche Auswirkungen haben Online-Initiativen wie Open Access für die Wissenschaft?

Allgaier: Der Diskurs darüber, wissenschaftliche Publikationen zugänglich zu machen, ist wichtig und zu begrüßen. Aber die dunkle Seite davon sind Journals, in denen man alles ohne Peer-Review-Verfahren publizieren kann – wenn man eine Open-Access-Gebühr von 500 Dollar bezahlt. Solche Journals schießen derzeit wie Pilze aus dem Boden – das ist die akademische Version von Fake-News.

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(Tanja Traxler, 10.5.2017)